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Hand in Hand von Uli - Reineke1794
Neeeeiiin, brüllte Paul und dann glitt Sabines Hand aus der seinen, sah er wie sie den steilen Hang hinunterrutsche, hörte er ihre verzweifelten Schreie, sah er ihren entsetzten, angstvollen Blick und musste er mit ansehen, wie sie sich immer schneller von ihm entfernte. - Der eigene Schrei hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Noch völlig desorientiert blickte er sich im Abteil um. Die Dame, ihm gegenüber schaute ihn fragend aber auch etwas unsicher an. Sonst war niemand im Abteil des Zuges von Luzern nach Basel. Eben kam die Durchsage, dass der IC 21 in wenigen Minuten den Bahnhof Olten erreichen werde. Gut, die halbe Strecke ist geschafft, dachte Paul, schloss die Augen und wollte diesen unglaublichen Tag noch einmal Revue passieren lassen. Wiederum drängten sich ihm die Bilder auf, die ihn im Schlaf hatten aufschreien lassen. Paul zwang sich zur Ruhe, wollte Ordnung in diese Flut von Gedanken bringen, in denen sich Traumbilder und Erinnerungen dieses einen Tages vermengten, dieses Tages, der nun schon Wochen zurücklag...

Von weitem mag es dramatischer ausgesehen haben als aus der Nähe. Sabine war schlichtweg abgerutscht, hatte Halt auf einem großen Felsvorsprung gefunden und auf diesem stand sie nun. Sie streckte einen Arm nach oben, Paul damit auffordernd, nach ihrer Hand zu greifen, was er auch tat. Allerdings musste er sich dazu auf den Bauch legen, um mit lang ausgestrecktem Arm überhaupt ihre Hand zu erreichen. Eigentlich war nicht Sabine ausgerutscht, sondern ein ganzes Stück des Weges, auf den sie soeben einen Fuß gesetzt hatte, war einfach weggebrochen.
Als Paul ihre Hand ergriff, geschah etwas, das selbst aus der Nähe betrachtet, unglaublich war. Beinahe der gesamte Felsvorsprung, auf dem Sabine eben noch gestanden hatte, löste sich mit lautem Getöse aus der Wand und verschwand samt riesiger Staubwolke in der Tiefe. – Sabine hing an Pauls Hand. Kurzzeitig spürte er beinahe ihr volles Gewicht, hatte sie fast keinerlei Halt mehr, außer dieser, seiner Hand. In dem Moment, als Paul wegen der Zugkraft bäuchlings auf Sabine zu rutschte, ließ dieser gewaltige Zug in Pauls Hand aber auch schon wieder nach. Irgendwie musste Sabine doch noch einen Standplatz mit ihren Füßen ertastet haben. Allerdings einen sehr brüchigen, wie ihr verzweifeltes Schreien schnell erkennen ließ. „Der Stein unter mir bröckelt“, kreischte sie mit sich dabei überschlagender Stimme in Pauls Richtung. Und jetzt konnte es Paul selbst sehen. Sabine stand auf einem relativ kleinen Absatz, so 80 x 80 cm groß, in der, ziemlich steil nach unten abfallenden Felswand, einem sehr instabilen, bröckeligen Vorsprung, aus dem sich unübersehbar immer wieder Steinchen lösten, die mit immer größeren Sprüngen irgendwo da unten verschwanden. Mit Entsetzen registrierten die Beiden, in welch fataler Situation Sabine war.
Paul sprach Sabine Mut zu und bemühte sich in jeder Weise, sie zu beruhigen. Irgendwann war dieses Thema jedoch ausgeschöpft, wurde es still zwischen ihnen. Und dann, fast gleichzeitig, begannen Sabine und Paul um Hilfe zu rufen.
Selbst, wenn Paul ein Muskelmann gewesen wäre, war es unmöglich, in seiner Lage Sabine nach oben zu ziehen. Auf dem Bauch liegend, mit völlig ausgestrecktem Arm und in diesem unglücklichen Winkel seines Armes im Verhältnis zu seinem Oberkörper, solches Gewicht hochzuziehen, dazu hätte es übermenschlicher Kräfte bedurft. Außerdem wäre es dazu nötig gewesen, sich mit der anderen Hand kräftig abzustützen. Dies hätte wiederum zur Folge gehabt, dass der Weg des ausgestreckten Armes sich etwas verkürzt, er somit Sabine hätte etwas anheben müssen. Eine absehbare Folge solchen Versuchs wäre gewesen, dass Sabine nicht nur ihr Gewicht hätte verlagern müssen, sondern auch ein wenig ihren Stand. Eine damit einhergehende, sehr wahrscheinliche Folge wäre dann, dass der brüchige Untergrund bei diesem Unterfangen nachgab und Sabine dann völlig frei an Pauls Hand hängen würde. Paul war klar, dass er in dieser Situation diese verzweifelte junge Frau bestenfalls nur für kurze Zeit hätte halten können…
Wieder rief er um Hilfe. Wenn er mit seinen Rufen für Sabine auch zu erkennen gab, dass er keine Möglichkeit sah, diese ausweglos scheinende Situation allein lösen zu können, so entsprach dies immerhin der Wahrheit. Die Hoffnung für Sabine konnte nicht er, Paul sein, sondern allein die Hilfe von außen. Er war lediglich nur noch ein Bindeglied zum Leben, solange Sabines Standplatz denn überhaupt hielt.
„Hilfe“, brüllte Paul in den Berg. „Hilfe! Hilfe!...“
Ob jemand diese Rufe hören würde? Es war eher unwahrscheinlich. Auf dem Weg ins Tal waren Paul und Sabine niemandem begegnet. Dass jemanden aus der Gruppe, der die beiden vor einer guten halben Stunde noch angehört hatten, diese verzweifelten Rufe erreichen könnten, glaubten weder Paul noch Sabine wirklich.
Vor etwa nur einer halben Stunde – es ist unglaublich – hatte sich die kleine Gruppe erst aufgelöst. Paul hatte sich beim Abstieg von den anderen verabschiedet, weil er wegen einer Terminsache noch den Abendzug von Luzern nach Basel erreichen musste. Sabine dagegen – eigentlich kannte er sie gar nicht – hatte sich mit ihrem Freund gestritten und Paul gefragt, ob sie mit ihm die große Abkürzung ins Tal nehmen könne. Sie konnte...und war jetzt völlig von dessen einen Hand abhängig, die ihr die Möglichkeit verschaffte, auf dem bröckeligen Untergrund das Gleichgewicht zu halten. Sabine weinte. Sie achtete aber darauf, sich nicht zu heftig von ihrer Verzweiflung fortreißen zu lassen, denn stets musste sie fürchten, dass wiederum mehr und mehr Steinchen den Berg hinunter sprangen.

Paul, in einer vermeintlich unvergleichlich komfortableren Situation als Sabine, jedenfalls auf den ersten Blick, malte sich aus, was geschehen würde, wenn die kleine, poröse Plattform unter Sabine nachgeben würde. Wie lange könnte er sie dann wohl halten? Würde er dann loslassen müssen oder würde er von ihr mit nach unten gerissen? Sie merkte ja schneller als er, wenn der Boden unter ihr nachgab. Sie würde sich in diesem Moment mit aller Kraft an seine Hand klammern und ihn mit ihrem vollen Gewicht – weil dies so plötzlich geschah - mit in die Tiefe reißen. So viel besser war seine Situation also gar nicht, fuhr es Paul durch den Kopf. Eigentlich nur jetzt, da sie nicht an seiner Hand hing, sondern diese nur hielt, hatte er noch die Wahl, sein eigenes Leben zu sichern, bevor sich die Plattform unter Sabine plötzlich lösen sollte. Jetzt, in diesem Moment, müsste er unter einem Vorwand seine Hand aus der von Sabine lösen. Er könnte behaupten, sich um Hilfe bemühen zu wollen und dabei seine Hand Sabine überraschend entziehen. Ihr Leben hing dann nicht mehr von ihm, genauer gesagt, seiner Hand ab, sondern von möglicher Hilfe von außen. Sein Leben aber wäre gesichert…
Paul spürte, wie er unabsichtlich ihre Hand etwas fester drückte, so als wolle er solch schlimme Gedanken verscheuchen, der bedauernswerten jungen Frau an seiner Hand signalisieren, sie nicht alleine zu lassen. Sabine blickte zu ihm auf. Er lächelte ihr zu. Sie schluchzte. Mit dem Weinen hatte sie längst aufgehört…
Warum nur diese Häufung saublöder, überflüssiger Zufälle?
Hätte sich Sabine mit ihrem Freund nicht gestritten, wäre er jetzt vielleicht schon bald im Tal und Sabine nicht in größter Lebensgefahr, ging es Paul durch den Kopf.
Wieder brüllte Paul um Hilfe…
Nichts, aber auch nichts geschah bei seinem erbärmlichen Rufen. - Seine Gedanken schweiften ab: Wie sehr hatte er sich am frühen Vormittag darüber gefreut, dass die kleine Wandergruppe, bestehend aus Gustav, Sabine, Helen und Finn ihn eingeladen hatte, sich ihnen einfach anzuschließen. Etwas oberhalb der Baumgrenze war das, als er sich gerade einen Verband am linken Knöchel anlegte, weil er sich den Fuß schmerzhaft vertreten hatte. Schnell waren sie ins Gespräch gekommen, hatten herzhaft über einige Scherze gelacht, die recht gut gelungen waren, wenn sie auch auf seine Kosten gingen. Die beiden Pärchen waren schon seit einigen Tagen in der Schweiz zum Bergwandern. Sie kamen aus Bremen, Hannover, Stuttgart und Helen aus einem Kaff in Hessen. Alle vier studierten zurzeit an der Humboldt Uni in Berlin, wo sie sich auch kennen gelernt hatten…
Wieder spürte Paul das Zucken von Sabines Hand in der seinigen. Erschreckt schaute er zu ihr runter. Ganz still stand sie da. Das Schluchzen hatte sie nun auch aufgegeben.
Vielleicht hatte sie sich ebenfalls gerade daran erinnert, wie schön es noch vor so kurzer Zeit gewesen ist… Paul sieht auf diese beiden Hände, die sich festhalten. Absurd! Zwei Hände. Eine gehört ihm und die andere einer jungen Frau, von der er lediglich den Vornamen kennt und für die er jetzt gewissermaßen die Verbindung zum Leben darstellt.

Unwillkürlich greift er wieder etwas fester zu, fasst er kräftiger die Hand dieser jungen Frau.
„Warum mache ich das überhaupt?
Halte ich diese Hand nur aus Mitleid weiterhin fest?
Mache ich dies, weil ich so erzogen worden bin?
Geschieht es aus Menschlichkeit?
Ist es menschlich, in dieser aussichtslosen Situation, deren entsetzliches Ende absehbar ist, das Unabänderliche eigentlich nur noch hinauszuzögern und das eigene Leben zu gefährden...?“
Paul erinnert sich an einen Artikel, den er vor einiger Zeit in einer Illustrierten gelesen hatte. Von einem Informatiker, Lenner oder Lehnert, Lemke oder so ähnlich der Name des Autors, war der Beitrag, der ihn so sehr gefesselt hatte. Hatte der Schreiber dieses Artikels nicht betont, dass die naturwissenschaftliche Weltsicht sich immer mehr vom religiösen Denken entferne?
Hatte dieser Lenner, Lehnert, Lemke oder wie er auch immer heißen mag, nicht darauf verwiesen, dass selbst Kant glaubte, dass es Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, ja sogar Selbstlosigkeit und ähnliche Verhaltensweisen nur deshalb gibt, weil es Gott gibt? Gäbe es ihn nicht, hätte der Mensch keinerlei Veranlassung, solche Moral zu entwickeln bzw. danach zu handeln, da schließlich in diesem Falle die Aussicht auf Belohnung oder Bestrafung im Jenseits entfiele… ?
Ganz anders dagegen die Meinung der Naturwissenschaftler: Wir Menschen handeln moralisch, weil es eine Erfahrung der Menschheit ist, dass das Überleben besser gesichert ist, wenn gemeinsam gegen Feinde angegangen wird, Nahrung gemeinsam beschafft wird oder etwa in der Not das Vorhandene geteilt wird.
In dem Artikel der Illustrierten war sogar die These aufgestellt worden, so glaubt sich Paul zu erinnern, dass moralisches, also sozial vorteilhaftes Verhalten einen Selektionsvorteil darstelle, gewissermaßen zu einem vererbten Bestandteil unseres Verhaltens im Verlauf der Menschheitsgeschichte geworden sei.
Gerade weil dieses Verhalten nicht nur durch Erziehung geprägt, sondern weil es eine stammesgeschichtliche Entwicklung durchlaufen hat, ist es dem Menschen mit der Geburt mitgegeben.
Die Naturwissenschaftler geben da noch eins drauf, so kann sich Paul erinnern: Sie verneinen nicht nur das Vorhandensein einer Göttlichkeit, das Vorhandensein einer unsterblichen Seele und einen Geist, die nach dem christlichen Glauben ihren Ursprung etwa in Gott, in seiner Schöpfung haben. Nein, sie zerschlagen auch diese Denkansätze, indem sie darauf verweisen, dass mit dem Tod schließlich das Gehirn zerfällt, das eigentlich ja unser Denken, unsere Gefühle, unsere Erfahrungen, unser gesamtes Bewusstsein ausmachen …
All das schießt Paul durch den Kopf.
Interessant ist für ihn aber auch die Erkenntnis, soweit er diesen Beitrag richtig verstanden hat, dass es Moral eigentlich immer gibt. Unabhängig davon, ob diese über den Glauben gefunden wird oder über die gesammelte Erfahrung aus der Menschheitsgeschichte, wie dies Naturwissenschaftler zu meinen scheinen.
…Wieder merkt er, wie er die Hand Sabines unwillkürlich etwas fester drückt.
Sie blickt zu ihm auf. Er nickt ihr zu, wobei er versucht, seinem Gesicht ein Lächeln aufzusetzen…
Religion hin oder her, Naturwissenschaft hin oder her, was ist aber zu tun, wenn soziales Handeln dem eigenen Überleben schadet, so wie es hier bei ihm der Fall ist? Ließe er die Hand von Sabine los, dann handelte er zwar egoistisch, somit unsozial, doch rettete er mit Sicherheit sein Leben. Ja, er könnte sogar argumentieren, allein dadurch in die Lage versetzt worden zu sein, sich aktiv um Hilfe für Sabine zu bemühen, die er in der gegenwärtigen Situation ihr schließlich nicht bieten könne. Hält er dagegen weiterhin die Hand dieser verzweifelten Frau fest, läuft er durchaus Gefahr von ihr mit in die Tiefe gerissen zu werden, wenn der Boden überraschend unter ihr nachgibt.
Eines ist Paul allerdings klar geworden: Sowohl der religiöse Mensch handelt zuletzt immer auch egoistisch, wenn er sich sozial verhält, da er sich, so sah es jedenfalls Kant, einen Vorteil im Jenseits dank solchen Handelns verspricht. Der naturwissenschaftlich beschriebene Mensch ist genau besehen auch nicht besser, da sein soziales Handeln stammesgeschichtlich nur auf der Erfahrung beruht, als Einzelner in der Gruppe nicht besser oder leichter überleben zu können. Paul schießen Bilder durch den Kopf, wie beispielsweise buddhistische Gläubige für die Götter nicht nur Weihrauchstäbchen oder Papiergeld kaufen, das sie dann für den Buddha verbrennen. Diese Opfer, wie solche Gaben genannt werden, sind doch eigentlich nur der Versuch, das Eine, das Absolute, die Götter für sich selbst einzunehmen, sie wohl meinend zu stimmen, sie gewissermaßen zu bestechen. Wollen sie nicht alle nur Vorteile für sich ganz allein oder ihre Seele oder was auch immer „erkaufen“?
Diese Gedanken waren das Letzte, woran sich Paul erinnern kann, als er in einem Krankenhaus wieder zu sich kommt. Was dann geschehen war, was mit Sabine, all das hatte sein Gedächtnis ausgeblendet. Paul kann sich an jede Einzelheit erinnern, nicht aber daran, was nach seinen Zweifeln, wie er sich denn verhalten solle, tatsächlich geschehen ist. Trotz allen Grübelns, dem Versuch, diesen verhängnisvollen Tag noch einmal minutiös zu rekapitulieren, endet seine Erinnerung stets bei seinen Zweifeln, die er kurz vor der Ausblendung seines Gedächtnisses hatte. Die Fragen, die sich zwangsläufig ergeben, quälen Paul, doch hat er Angst, nach der Schwester zu klingeln, um diese Fragen zu stellen. Paul hat Angst vor den Antworten, das ist ihm klar geworden. - Eher zufällig entdeckt er die Zeitung auf dem Nachttisch, liest er die Schlagzeile auf der Titelseite. Es ist wie ein elektrischer Schlag mit anschließender Lähmung, als die Wörter der Schlagzeile sein Gehirn erreichen: "BERGDRAMA – DIE STAATSANWALTSCHAFT ERMITTELT.“
Die Staatsanwaltschaft ermittelt?.. Gegen mich? durchfährt es Paul… Bin ich schuldig geworden?...
Habe ich Schuld auf mich geladen?
„Nein, bitte nicht“, hört er sich flehen.
„Vielleicht, vielleicht, vielleicht wird wegen des Wanderweges ermittelt, der sich als lebensgefährlich erwiesen hat?“
Paul hat das Gefühl, zu fallen, abzustürzen, sich im freien Fall zu befinden. Beenden wird diesen Zustand lediglich der Aufschlag, der unwiderruflich
kommen muss. Sein Kopf dröhnt. Der Druck nimmt zu. Paul kennt das vom Tauchen, wenn es in den Ohren knackt, die Augen aus dem Kopf zu springen scheinen. Ihm wird übel. Er verspürt einen Brechreiz. Speichel sammelt sich in seinem Mund. Der Puls schnellt hoch. Am Hals fühlt er die kräftigen Schläge der Schlagader. Kurzzeitig wird ihm schwarz vor Augen. Und dann verspürt er den Wunsch zu fliehen, wegzulaufen, sich irgendwo zu verkriechen, alles auszublenden, um endlich wieder zu sich selbst zu finden...frei zu sein von dem Druck, der unermesslichen Angst, sich schuldig gemacht zu haben.
Die Umstände, weshalb er im Krankenhaus ist, kennt er nicht. Der Blackout, der partielle Gedächtnisverlust, hatte ihm in der fürchterlichen Situation eine Entscheidung ganz offensichtlich abgenommen, dessen ist sich Paul bewusst. Die Frage jedoch, wie er denn letztendlich gehandelt hat, ist nicht beantwortet. Erst wenn die Erinnerung zurückkehrt, wird er es wirklich wissen, ob er sich schuldig gemacht hat oder ... oder auch?
Gleich wird er es erfahren, denn eben hat die Schwester ihm mitgeteilt, dass draußen vor der Tür Besuch warte. Die Frage wer es denn sei, ließ sie unbeantwortet, doch ließ ihre vielsagende Mimik alle Möglichkeiten offen.
Waren es die Mitglieder der kleinen Wandergruppe, der er zufällig vor einigen Wochen in den Bergen bei Luzern begegnet war? Waren es ein Freund oder Freunde, die von dem Unglück gehört hatten? War es etwa ein Vertreter der Staatsanwaltschaft? War es ein Journalist, ein Vertreter der Gemeinde, in deren Bereich sich dieses Unglaubliche zugetragen hatte? Waren es Angehörige seiner Familie?
Paul hält den Atem an. Er schließt die Augen, als sich die Tür öffnet.

Eine Hand meint er zu spüren, die nach seiner gefasst hat. Es ist eine weibliche Hand. Deutlich fühlt er die feinen, schmalen Finger, glaubt er sich zu erinnern, genau diese Hand einmal gehalten zu haben. Paul öffnet die Augen, doch schiebt sich in diesem Moment ein Schleier vor sein Blickfeld. Es sind Tränen, die ihm den Blick verwehren. Dann jedoch bricht es aus ihm heraus. Laut beginnt er zu heulen. Vergleichbar einem heftigen Hustenanfall wird sein Oberkörper geschüttelt, klingt es, als sei ein Hund in seine Lungen gefahren und belle es jetzt heraus, diese Gefühle von Glück, von Hoffnung, von Dankbarkeit, von Demut, von Erleichterung, die auf einmal hochschießen und gleichzeitig sich äußern wollen, so dass es zu einem Gefühlsgedränge kommt, und die Besucherin von dem Heulen und Bellen dieses Patienten überfallen wird. - Und so kommt es, dass Sabines Hand in der von Paul liegen bleibt. Lange, ziemlich lange.
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