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Etti in literarischen Gedankengängen vertieft.....

.................. Steine der Erinnerung

Die langgestreckte Straße unter meinen Füßen wird immer wieder an der
nächsten Ecke auf eine ganz besondere Weise lebendig. Wie vor zehn
Jahren, als ich nach fast einem halben Jahrhundert wieder an den Ort
meiner Kindheit zurückkehrte. Das „Damals“ drängte sich in mein
Gedächtnis, als mein Schritt sich verlangsamte an dem Backsteinhaus mit
dem niedrigen Fenster.
Früher stand dieses Fenster meistens offen. Nur auf Zehenspitzen konnte
ich hineinsehen. Nun hätte ich es leichter gehabt, aber es war geschlossen
- der Blick ins Innere versperrt durch eine Gardine, hinter der sich
nichts zu bewegen schien. Nicht wie einst, als der freundliche Mann mit
der Kneiferbrille auf der Nasenspitze im Schneidersitz auf dem Tisch saß
und ich übermütig vor dem Fenster stand und „Schneider, meck-meck-meck,
jucheirassa!“ trällerte.
Jedes Mal reichte er mir ein Bonbon nach draußen, aber nicht, ohne sich
beim Aufstehen den Kopf an der tiefhängenden Lampe gestoßen zu haben.
Durch das pendelnde Licht schienen die Regale und die dicken Stoffballen
hin und her zu tanzen, bis der Mann wieder auf dem Tisch saß und die Lampe
anhielt.
„Jucheirassa, jucheirassa, lass die Nadel sausen“ sang ich, wenn er
wieder mit seiner Arbeit begann.
 
Die Melodie schwirrte durch meine Gedanken, als ich um die Ecke des Hauses
ging. - Zugemauert! Sie haben alles zugemauert. Wo einst das Schaufenster
und der Eingang zu dem kleinen Laden waren - nichts als Steine. Doch
beharrlich behaupten sich die Umrisse im Flickwerk; und mir war, als müsse
nur die Jalousie hochgezogen werden, und zwischen bunten Knöpfen und
Garnrollen, Scheren und Stoffen stünde sie da, die Puppe aus Draht, die
mir kleinem Mädchen damals so großes Kopfzerbrechen bereitet hatte - eine
Puppe aus Draht, ohne Kopf, ohne Arme und Beine; bis Mutter mir erklärte,
dass es eine Schneiderpuppe sei und wozu man sie benutze.
Gleich drängte sich mir das Bild auf, wie sie eines Tages auf der Straße
lag, zerbeult von Fußtritten, umgeben von all den bunten Garnen und
Knöpfen, bedeckt von entrollten Stoffballen, wie Fahnentücher nach einer
gewonnenen Schlacht vom Mast gerissen - zerstochen und zerschnitten. Das
Geräusch der Messer auf dem Asphalt, in blinder Wut in sie hineingerammt,
das Zerreißen von Stoff, Rufe, von denen sich nur der schreckliche Satz
„Weg mit der Judenscheiße!“ in mein Gedächtnis gebohrt hat, vermischten
sich mit der Melodie des Kinderliedes in meinem Kopf.
Ich durchlebte wieder, wie ich, an die Hauswand gepresst, vor Angst
zitternd, das Geschehen verfolgte, ohne es zu begreifen, bis alles wieder
ganz still war - unheimlich still. Nur die Stofffetzen bewegten sich
unruhig im Wind. Ich schaute hinüber zu dem Fenster - kein Licht, nur
Dunkel. Der freundliche Mann war nicht da. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
 
Seit dem Tag meiner ersten Erinnerung vor zehn Jahren verlangsamt sich
noch immer mein Schritt vor dem Backsteinhaus - jedes Mal auf dem Weg in
den Supermarkt. Und noch immer heben sich die Steine ab vom alten
Mauerwerk, als wollten sie nichts vergessen machen.
Ein stummes Mahnmal für mich, die ich um ihre Geschichte weiß.

von.Etti Ruhöfer

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