Die Hildesheimer Jungfrau
Eines Tages ging ein Hildesheimer Fräulein in den Wald und suchte die große Linde auf,
unter welcher ihr Bräutigam tagtäglich saß und auf sie wartete. Doch der Mensch denkt und Gott lenkt! Sie war noch nicht bei dem Baum angekommen, als es pechrabenschwarz heraufzog und ein Sturm losbrach, als ob der böse Feind sein Wesen trieb. Als nun die halb zu Tode verängstigte und durchnäßte Jungfrau endlich bei dem Baum ankam, da zeigte ein heller Blitz ihren Bräutigam, wie er kalt und leblos auf dem grünen feuchten Moos lag, ein Blitz hatte ihn getroffen. Nun stelle sich einer den Schmerz der Jungfrau vor! Sie weinte und schrie, zerraufte ihr schönes Haar und lief wie irrsinnig immer tiefer in den dunklen Wald. Eine ganzen Tag mochte sie so umhergelaufen sein, als sie ermattet unter einem wilden Rosenbusch niedersank und einschlief. Als sie wieder erwachte, suchte sie nun den Rückweg nach Hildesheim; aber da war kein Weg und kein Mensch zu sehen, nur das Geheule der Wölfe antwortete auf ihre Klagen. „Verlasse mich nicht, heilige Mutter Gottes, in dieser Not"“ rief die todmüde Jungfrau. Kaum hatte sie dieses ausgesprochen, als sie in weiter Ferne eine Glocke hörte, die rief ihr zu: “Kehre wieder! Kehre wieder! Kehre wieder!“ Da lief die hinein Jungfrau den Glockentönen entgegen, und je weiter sie lief, desto deutlicher hörte sie die Glocke, bis sie aus dem dunklen Wald kam und die schönen Felder und Gärten der Stadt zu ihren Füßen sah. Da war es schon Abend, doch das Fräulein mußte wohl mehrere Tage im Wald umher gelaufen sein.
Der Festungsturm, auf dem die rettende Abendglocke hing, heißt seit dem und bis auf den heutigen Tag, „Der Kehrwiederturm.“
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