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Griechischer Wein

Sie sah aus dem Fenster. Seit Tagen stand die unerbittliche Sonne hoch am Himmel und ließ die Menschen in eine hitzebedingte Lethargie versinken. Aber der schwindsüchtige Zustand von Speisekammer und Kühlschrank machten einen Gang zum Supermarkt dringend erforderlich. Die lähmende Hitze der letzten Tage hatte sie bewogen, den schweißtreibenden Einkauf immer wieder hinauszuschieben.

Schnell zog sie sich eine leichte Sommerbluse über die Jeans und die roten offenen Sandalen an. Das laute Klappern ihrer Absätze hatte ihren Vermieter aus seiner Wohnung gelockt: „Na, wo geht’s denn bei dieser Hitze hin? Freiwillig geht da doch niemand vor die Tür.“

Griechischer Wein

Ja, da hatte er wohl recht. Aber von irgendetwas musste man sich schließlich ernähren.

Das auf der Straße geparkte Auto hatte in seinem Innenraum mindestens 70 Grad. Das Lenkrad war so heiß, dass sie es kaum anfassen konnte. Ihr brach der Schweiß aus. Der Gedanke an den klimatisierten Supermarkt ermutigte sie.

Im Parkplatz des Untergeschosses staute sich die feuchtheiße Luft. Aber schon beim Hineingehen in den Supermarkt machte sich die kühlende Wirkung der Klimaanlage bemerkbar. In der Frischmilch- und Käseabteilung war es so kühl, dass sich ein paar Menschen mehr als sonst dort tummelten.

Jetzt zur Nudel- und Konservenabteilung in den zweiten Stock.

Schon auf der Rolltreppe hörte sie im Lautsprecher das von Udo Jürgens vorgetragene Lied „Griechischer Wein“.

Sie mochte weder Udo Jürgens noch dessen Lied.

Als sie vor dem Regal mit dem überreichen Angebot aller erdenklichen Nudelsorten stand und sich fragte, welche sie kaufen sollte, drang ihr der Text des Liedchens ins Ohr „Komm schenk dir ein und wenn ich dann traurig werde, liegt es daran, dass ich immer träume von daheim; du musst verzeih‘n - Griechischer Wein und die altvertrauten Lieder…“

Sie wusste nicht, warum ihr dieses Lied plötzlich so zu Herzen ging. Langsam schlich sie um das Nudelregal und war nicht fähig, ein Päckchen davon in ihren Einkaufswagen zu legen.


„Schenk noch mal ein, denn ich fühl die Sehnsucht wieder, in dieser Stadt werd‘ ich immer nur ein Fremder sein, und allein – Griechischer Wein…“

Zum großen Verdruss ihres übertölpelten Verstandes hatte sich ihr Gefühl verselbständigt und ließ unaufhaltbar Träne auf Träne aus ihren Augen rinnen. Sie schluckte. Was hatte sie nur? Energisch tupfte sie die Tränen aus ihren von Mascara verschmierten Augen.

„Und dann erzählten sie mir von grünen Hügeln, Meer und Wind,
von alten Häusern und jungen Frauen, die alleine sind,
und von dem Kind, das seinen Vater noch nie sah“

Ihre Mundwinkel fingen an zu zucken. Die Tränen liefen ihr rechts und links ihrer Nase die Wangen hinunter. Sie schluchzte laut auf und drehte tränenblind eine weitere nutzlose Runde um das Nudelregal.

Griechischer Wein

„Mama, Mama, warum weint die Frau? Hat die sich verletzt? Sollen wir ihr helfen?“

Mit erhobenem Zeigefinger deutete ein kleiner Junge auf sie.

„Griechischer Wein….“

„Sei still, die Frau ist traurig, da sollst du sie nicht stören, Komm weg!“

Die Situation war ihr äußerst peinlich. Was hatte sie nur? Aber die verlorene Gestalt des alten Griechen, der sich fern der Heimat voller Sehnsucht an sein Dorf erinnert, trat ihr so deutlich vor Augen, dass sie sich sein Elend zu eigen machte und mit ihm trauerte und sich vielleicht auch an ihr eigenes Schicksal erinnerte. „Fern der Heimat und ein Fremder im fremden Land, Griechischer Wein…“

Natürlich wusste sie, dass sie weder einsam noch fremd war. Und obwohl sie ein durch und durch optimistischer Mensch war, steckte tief vergraben im Inneren eine Trauer in ihr, die nicht geheilt werden konnte. Es bedurfte nur eines gewissen Wortes, einer Geste, eines Liedes, sei es kirchlich oder volkstümlich, und schon brach sich dieser sorgsam verdeckte Schmerz seinen Weg und schwemmte sie mit auf eine seltsam sentimentale Spur der Trauer und der Schwermut, die sie nicht stoppen konnte.

Sie dachte an den harten Weg ihrer eigenen Familie als Heimatvertriebene nach dem letzten Weltkrieg. Die dieses Schicksal erlitten haben, können das Geschehen niemals vergessen und niemals verarbeiten. Sie müssen damit leben und es zulassen, dass dieser ziehende Schmerz über den Verlust der Heimat sie immer wieder einmal heimsucht und in einem Gefühl der Sehnsucht und Verlorenheit endet. Genau dieses schlummernde Gefühl hatte das Lied in ihr geweckt.

Sie irrte durch die Regalreihen. Tunfisch, saure Gurken, Senf und Majonäse. Nichts dergleichen wollte sie kaufen. Aber sie wollte sich auch nicht den neugierigen Blicken der anderen Käufer aussetzen und so stolperte sie durch die weniger frequentierten Abteilungen des Supermarkts und trocknete weiter die durch keine noch so rationalen Einwände zu stoppenden Tränen.

Nie hatte sie sich sehnlicher gewünscht, jetzt eine Sonnenbrille aus der Handtasche ziehen zu können.

Die Tränen hörten nicht auf zu fließen. Sie ergab sich der Einsicht, dass sich dieser Zustand nicht unmittelbar beenden ließe und fuhr mit dem leeren Einkaufskorb nach Hause.

Ihrem Mann würde sie vorschlagen, zum Abendessen in ein Restaurant zu gehen und eine gute Flasche Wein zu trinken. Vielleicht einen griechischen.

Autor: Feierabend-Mitglied

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