Salamischiffchen auf hoher See
Sie hatte schlechte Laune. Diese Reise nach Wien stand unter keinem guten Stern. Ihr Chef hatte plötzlich Zweifel an der Vertriebsstrategie für die neuen Produkte. Jetzt, wo die österreichische Tochterfirma schon für den Beginn der Verkäufe in den Startlöchern stand, schwebte ihm eine ganz andere Form der Vermarktung vor. Und je mehr sie ihm widersprach, umso mehr kehrte er den Chef hervor und bestand auf seiner neuen Idee. Sie war genervt. Die ganze Planung umsonst. Sie verstand die Welt nicht mehr.
Wie abgesprochen trafen sie sich abends an der Hotelrezeption, um gemeinsam den letzten Flieger nach Frankfurt zu nehmen. Mürrisch setzte sie sich bei der Rezeption auf einen Sessel neben ihrem Chef. Ein Taxi sollte sie zum Flughafen bringen. Plötzlich kam ein Hotelangestellter auf sie zu und sagte ihnen, dass heute wegen eines überraschend angesagten Streiks des Kabinenpersonals keine Flüge mehr von Wien nach Frankfurt starten würden. Voraussichtlich würde der Flugbetrieb erst am nächsten Morgen oder noch später wiederaufgenommen werden. Das brachte ihre Pläne völlig durcheinander. Ihr Chef schlug vor, dass man auch ein Mietauto oder die Bahn nehmen könnte, aber angesichts der mehr als 700 km langen Strecke verwarfen sie den Plan. Sie würden es morgen früh am Flughafen versuchen.
„Ja, meine Herrschaften, i hätt‘ da einen Vorschlag für Sie. Fahren’s doch nach Grinzing, trinken’s dort a Glaserl Wein und vergessen’s Ihren Ärger“, rief ihnen der Mann von der Rezeption zu. “Wir verlängern Ihren Aufenthalt im Hotel um einen Tag.“
Sie schauten sich an und nickten nach kurzer Beratung. Nach so einem verkorksten Tag könnte ein Wein entspannend wirken. Im Taxi nach Grinzing sprachen sie wenig miteinander. Sie hegte einen tiefen Groll gegen ihn und er fand keine Worte, wie er sie wieder besänftigen konnte.
Der Taxifahrer setzte sie in dem Lokal ab, das ihnen der nette Mann vom Hotel genannt hatte. Unter Mühen fanden sie noch einen kleinen freien Tisch. Es war Freitagabend und das ganze Lokal vibrierte vor Betriebsamkeit, lautstarken Zechern, dröhnendem Lachen und weinseliger Musik. Schlecht gelaunt von den Ereignissen des Tages empfand sie den lärmenden Zirkus als ganz und gar abstoßend. Lieber wäre sie in eine kleine Bar gegangen und hätte sich bei leiser Pianomusik mit einem oder zwei Gin Tonic den Ärger Schluck für Schluck weggetrunken. So saß sie ihrem Chef gegenüber, dem sie die Pest an den Hals wünschte und musste Smalltalk mit ihm machen.
Sie bestellten sich zusammen eine Brettl Jause. Auf einem großen Holzbrett brachte man ihnen eine opulente Auswahl deftigster Würste, Käse, Schmalz, Bauernbrot und sonstiger Spezialitäten. Sie hielt sich zurück, aber ihr überaus hungriger Chef griff mächtig zu. Besonders mundete ihm die hiesige grobe Bauernsalami. Dazu trank er schnell hintereinander große Mengen Weißwein aus einer Glaskaraffe, die ihnen der Kellner auf den rustikalen Tisch gestellt hatte. Freiwillig hätte sie den Wein normalerweise nicht getrunken, aber sie wollte sich vor ihrem Chef nicht als Bessertrinker geben.
Erst redeten sie nicht viel, aber dann kam er wieder auf seine neue Idee zurück und versuchte, sie ihr schmackhaft zu machen. Höflichkeitshalber hörte sie ihm zu, aber sie wollte ihre Pläne nicht ändern. Sie waren gut durchdacht und das, was er vorschlug, war in ihren Augen keine erfolgversprechende Strategie.
Der steigende Weinkonsum sorgte allmählich dafür, dass man lockerer wurde. Möglichkeiten eines Kompromisses wurden ausgelotet, ein zaghaftes Lachen geprobt. Trotzdem erschloss sich ihr noch immer nicht seine abweichenden Pläne. Sie diskutierten, bis ihnen die Köpfe rauchten. Ihr war wichtig, das Kernstück ihres ursprünglichen Plans beizubehalten. Er plädierte für Änderungen. Sie staunte, welche Menge an Wein er in kürzester Zeit in sich hineinschütten konnte.
„Sehen Sie, liebe Kollegin, man muss nur miteinander reden, dann findet man schon eine Lösung.“
Mit diesen Worten neigte er sich ihr aufmunternd entgegen, als plötzlich eine Fontäne schaumigen, halbverdauten Essens und Weines aus seinem offenen Mund schoss und den groben Holztisch mit einer weißlich, wie aufgeschlagenen Flüssigkeit bedeckte, auf der ganz vereinzelt Salamibrocken wie rote Segelschiffchen in einer stürmischen See schwammen.
Sein Gesicht gefror. Er starrte sie an. Sie starrte zurück. Wie angeschmiedet saß sie stocksteif auf ihrem Stuhl. Sie wusste, dass dieser Machtkampf in diesem Moment zu ihren Gunsten entschieden war.
„Ich gehe davon aus, dass dieser Vorfall unter uns bleibt.“ Seine Stimme schwankte.
Sie nickte bejahend und senkte den Blick, während sie sorgfältig das Revers ihres befleckten Jacketts mit einer Serviette abwischte. Sie wollte ihm den Anblick des Triumphs ersparen, der sich in ihren Zügen und funkelnden Augen spiegelte.
Am späten Nachmittag des nächsten Tages, ein Samstag, landeten sie ohne Probleme am Flughafen in Frankfurt und verabschiedeten sich mit gespielter Sachlichkeit voneinander, ohne den Vorfall auch nur einmal zu erwähnen. Sie nahm sich ein Taxi und fuhr nach Hause. Ihr Mann erwartete sie schon ungeduldig.
„Das Wochenende ist schon fast vorbei. Du solltest dir einen ehetauglicheren Job suchen und mehr Rücksicht auf deinen Mann nehmen,“ war seine Begrüßung. „Andere Frauen sind da fürsorglicher und kümmern sich um ihren Mann. Aber ich muss mich immer mit deinen Eskapaden rumschlagen.“
Ihre Eskapaden? Was konnte sie für die streikfreudigen Angestellten der Lufthansa?
Natürlich hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als ihrem Mann vom fatalen Missgeschick ihres Chefs zu berichten. Er fand den Vorfall rufschädigend für ihn und riet ihr, im Büro nicht darüber zu sprechen.
Leider hatte das Missgeschick eine tragische Konsequenz. Im Laufe der nächsten Monate stellte sich heraus, dass ihr Chef an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war und das Schicksal keine gute Langzeitprognose für ihn bereithielt. Er starb innerhalb eines Jahres nach dem Vorfall. Immer, wenn sie an ihn dachte, wurde ihr bewusst, dass es in im Leben keine Gewinner oder Verlierer gibt, sondern, dass das Schicksal unergründlich ist und Fragen zum Sinn des Lebens zu nichts führen.
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