Als man noch Briefe schrieb...
Wer kennt sie nicht, diese grauen Tage, es regnet und der Spiegel erzählt mir ganz nebenbei, dass es nicht zu verbergen ist, diese Welt schon 'ne ganze Weile zu kennen.
Ich weiß nichts Rechtes anzufangen heute, vielleicht 'ne neue Frisur in gildablond? Oder gar Ingelörchen anrufen? Keine gute Idee!
Was wollte ich denn immer schon mal tun, nur fehlte stets die Zeit dazu? Aaaah, ja, diese total lustigen Fotos vom FKK-Urlaub seinerzeit auf Norderney könnte ich endlich mal raussuchen.
Augenblicklich begebe ich mich an die Arbeit, steige auf einen Stuhl, kippele gefährlich seitwärts und hangele mich in der hintersten, staubigen Ecke am obersten Schrankfach fest. Und werde tatsächlich fündig, ausgerechnet in jener Ablage, welche, wenn's hochkommt, nur zweimal im Jahr geöffnet wird, da sein Inhalt jedes Mal die Chance wahrnimmt, vereint in die Freiheit zu purzeln.
So auch dieses Mal. Es prasselten mir teils gebündelte, teils zerrissene, teils einzelne bunte Karten und Briefe übermütig zu Füßen. Einigen von ihnen fehlten die Postmarken, brutal herausgeschnitten von Horst, meinem Bruder, diesem Hobby-Philatelist.
Und die Fotos? Vergessen! Denn jetzt hocke ich mich erstmal mitten in die Flut geschriebener Schwüre, Lügen, inklusive freudigem Herzklopfen.
Greife wahllos zu diesem blassgelben, etwas zerknitterten Umschlag. Volker stellt die Frage: „Willst du mit mir geh‘n?“
Wer er im Himmel war jetzt verdammt nochmal Volker?
Da, ein kurzer Brief von Elke, sie berichtet aus einem Kurheim auf Langeoog und vergeht vor Heimweh. Wohlmeinende Ratschläge meiner Patentante Leni, in steiler Sütterlinschrift.
Geburtstagsgrüße von einigen ehemaligen Kollegen auf witzigen Karten.
Ein hellblauer Umschlag weckt meine Neugier. Eine Nachricht von Frederic, dem stets gut gelaunten verheirateten Mann, welcher stolz von sich behauptete, "immer ein wenig unter „Strom zu stehen". Ich war damals 17 1/2 und mir war damals so manches gleichgültig. Nachdenklich lese ich nun dessen arg doppelzüngige Versprechen.
Dann ein schlichter weißer Brief, klare Druckbuchstaben fast feierlich, doch welch traurige Botschaft. Axel macht ‚Schluss‘; kündigt die zarte Hoffnung auf was ‚Festes.‘ Mit vorwurfsvollen Worten verabschiedet er sich, und diesen Schmerz, mich noch immer zu mögen, wolle er nicht verbergen.
Total erfrischend: Sämtliche Briefe von Dirk. Ich greife in ein mit einer dicker roter Schleife verschnürtes Bündel. Welch ein fleißiger Schreiber, später kam mir zu Ohren, aus ihm sei ein taffer Geschäftsmann geworden, sogar in der Politik erfolgreich.
Jahrelang waren wir befreundet, bis... ja, bis Ute kam und ihn zum Vater machte.
Freundin Marianne klagt ihren Ärger mit Holger, der sie ständig betrog, ja, den hatten wir damals zu Genüge, nämlich Liebeskummer!
Zahlreiche Verbote seitens unserer Eltern und das rebellische Gefühl, bereits eine Frau zu sein, doch wenig dürfen, denn bis zur Volljährigkeit waren es ja noch mindestens 100 Jahre!
Der treue Brieffreund Bernd schreibt mir an die Adresse meiner Schulfreundin Agnes, denn mein Vater verbot mir jeglichen Kontakt mit ihm, weil er ein schlechter Umgang wäre aufgrund seiner fragwürdiger Familienverhältnisse.
Gespannt lese ich nun Bernds frühreife, liebevolle Gedanken, welche dessen sympathische Wesensart widerspiegeln.

Wahllos greife ich mir den nächsten Schrieb, er ist von Falk, diesem Traumboy und Schwarm fast aller Mädchen. Semmelblond und super süß, ich erinnere mich an die weichen Knie, die ich bekam, als er mich zum ersten Tanz aufforderte.
Doch Falk konnte einfach nicht den zahlreichen Versuchungen widerstehen, es gab eben jede Menge hübsche Girls in der Warteschleife.
Nun fällt mir dies hellgrüne Kuvert in die Hände, sofort erkenne ich die zügige Schrift, leicht, fast filigran, ich lese Sätze, welche mich damals total überforderten, ein Liebesbrief, voller Intensität der tiefe Gefühle plus einen gewissen Sehnsuchtsschmerz verrät.
Erst jetzt begreife ich die Worte Manfreds, denn ich war damals knapp 16... und er bereits schon 20...
Fast hätte ich ihn übersehen, den bräunlichen Umschlag, an mich gerichtet von meinen Eltern. Ich überfliege lächelnd die Zeilen, wie üblich Ermahnungen, und wenig interessante Neuigkeiten, doch dieser eine Satz zum Schluss, geschrieben von meinem Vater in dessen unvergleichlich ausgeprägten Schrift lässt mein Herz Purzelbäume schlagen:
----- Grüße an mein Goldkind-----
Mein Vater, mit dem ich seit ich denken kann, auf Kriegsfuß stand, schrieb mir solch einen lieben Herzensgruß?
Doch dann fällt mir zum Glück wieder dessen vorzügliche Begabung, ein...
…nämlich die der feinen Ironie!
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