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Ein jegliches hat seine Zeit...

Der fünfundachtzigste Geburtstag meiner Mutter steht kurz bevor und diesmal lasse ich mir ein ganz besonderes Geschenk einfallen. Ich sortiere chronologisch die Fotos all ihrer Lebensstationen und hefte diese in ein wunderschönes Album. Schon beim sichten dieser alten Schwarz-Weiß-Fotografien begleiten mich intensive Erinnerungen. Oftmals entdecke ich mich als kleines Kind an Orten welche auch heute noch einen festen Platz in meinem Herzen haben.

Oma mit Enkel

Doch zurück zu den Mutterfotos, besonders auf den ganz frühen Bildern bieten sich mir ernste Gesichter. Leider existieren nur zwei sehr frühe Aufnahmen von ihr, auf denen sitzt sie auf dem Schoß ihrer Mutter, und zwei ihrer Schwestern stehen dicht daneben, der Vater posiert stolz hinter seiner Familie, welche allesamt im Sonntagsstaat gekleidet. Fotografiert zu werden war früher etwas besonderes, zum Beispiel dies Klassenfoto, meine Mutter neben ihrer besten Freundin Therese, zwei süße, kleine, ernst dreinblickende Mädchen.

Später dann Bilder, schon etwas aufgelockerter, ich erkenne fröhliche junge Menschen, ich wusste aus ihren Erzählungen, es waren Schulfreunde und Nachbarskinder aus dem Dorf. Diese Aufnahmen von den mannigfaltigen Festen zahlreicher Vereine ihres Ortes zeugen vom "Spaß an der Freud", ob Fastnacht oder das Kirschblütenfest, die religiös geprägten Prozessionen, stets entdecke ich ein munteres Treiben, sowie traditionell gelebte Frömmigkeit.

Dann erscheint ein junges lachendes Mädchen, adrett in einem weißen Kittel, es war die Zeit ihrer Lehre, welche sie in einem bekannten Koblenzer Konfektionshaus begann. Plötzlich fehlen die Fotos, welche mir zeigen, wie es nun weitergeht in ihrem Leben.

Erst später erfuhr ich den Grund, meine Mutter seinerzeit jung und naiv vertraute einem älteren Freund ihrer Schwester, sie nahm dessen Einladung zu einer Ausfahrt in seinem schicken Automobil an. Dieser nutzte auf der Spazierfahrt seine Chance und vergewaltigte sie, das Ergebnis war eine Schwangerschaft. Ihr Leben geriet total aus den Fugen, in der Familie wurde stets nur hinter vorgehaltener Hand darüber getuschelt, dies für sie so schreckliche Ereignis wurde schlicht verdrängt. Damals konnte und wollte ein erzkatholischer Pfarrer samt seiner scheinheiligen Schäfchen solch eine Sünde und Schande in seiner Gemeinde nicht dulden. Aus diesem Grund wurde die sicherlich völlig verzweifelte und schuldbewusste erst 18-Jährige aus ihrer Heimat, den Freunden und der Familie spurlos entfernt.

In einer für sie völlig fremden Umgebung bei ihrer bereits verheirateten ältesten Schwester in Westfalen lebte sie fortan unsichtbar, keine Fotos, nur ein Mantel des Schweigens umhüllte das sogenannte "gefallene Mädchen.“ Sie gebar schließlich eine Tochter und diese kam sofort in die Obhut des Klosters zu "den Schwestern der christlichen Liebe", eventuell wurde auch über eine mögliche Adoption gesprochen. Meine Mutter durfte ihr Kind nur einmal pro Woche sehen, inzwischen verdiente sie ihr Geld als Verkäuferin in einem beliebten Kaufhaus der Stadt.

Und jetzt kann ich sie auch wieder entdecken auf Fotos, inmitten gutgelaunter Kollegen, sie hat sich inzwischen zu einer hübschen jungen Frau gemausert. Ich habe den Eindruck, wenn ich die zahlreichen Bilder betrachte aus dieser Zeit, dass es eine glückliche war. Die Belegschaft vermittelt ein harmonisches Miteinander, sicherlich auch wegen der zahlreichen Betriebsausflüge.

Dann änderte sich abermals etwas, mein zukünftiger Vater, welcher meine Mutter schon vor diesem für sie katastrophalen Erlebnis verehrte, hielt um ihre Hand an. Es wurde geheiratet und endlich löschte die Ehe den Makel "nur" eine"ledige Mutter" zu sein. Doch fortan machte sie auf Fotos einen eher etwas schüchternen Eindruck, so als sei der Titel einer Ehefrau eine schwere Bürde. Diese unbefangenen, wie ich sie nennen möchte, "lachenden Bilder" gehören nun der Vergangenheit an, ab jetzt blickt eine verantwortungsvolle Hausfrau in die Linse, und ich denke, von da an stellte sie auch ihre eigenen Wünsche stets ganz hinten an. Ich sehe sie Kuchen backend in ihrer Berufskleidung, einer Kittelschürze, doch der vom Vater ersehnte Stammhalter ließ leider auf sich warten, weil zuerst kam ein vorwitziges Mädchen, nämlich ich. Stolz zeigt sie sich mit mir (ehelich geboren) und meiner acht Jahre älteren Schwester (welche mein Vater schließlich adoptierte) beim Besuch in ihrem Heimatdorf, aus dem sie einst verbannt wurde.

Und dann diese Fotos aus der Kriegszeit, fast nur Omas, Tanten, Nachbarinnen sind abgelichtet, die schrecklichste Phase bestand der Zivilbevölkerung wohl noch bevor. Es war die Zeit der starken Frauen, diese organisierten den Bomben-Alltag, und wurden dienstverpflichtet, sie hamsterten und rückten zusammen im Bunker, gebaren tatsächlich auch noch Kinder. Sag mir, wo die Männer sind, außer Fronturlaub null Familienleben, Fotos vom Vater in Uniform, besorgte, ängstliche Gesichter, trotz allem auch manch Zipfelchen Freude, weil noch ist nicht alles Schutt und Asche. Ein paar Fotos zeigen mir "die Hoffnung stirbt zuletzt". Oma und ihre Töchter genießen echten Bohnenkaffee, woher auch immer, denke Tante Hilde, das clevere "Tauschgenie", hat den organisiert.

Dann kehrt mein Vater aus der französischen Gefangenschaft heim, sehr hager, mir fast fremd. In einer Menschenschlange geduldig wartend, entdecke ich meine Mutter, hoffend etwas Milch oder einen Weißkohl, dank Lebensmittelkarten, zu ergattern, im original Trümmerfrauen-Look mit diesem kunstvoll gebundenen Tuch, um den Kopf.

Jetzt endlich beginnen die Wirtschaftswunder-Fotos, es wurde in die Hände gespuckt und ein Häuschen gebaut, mit viel Eigenleistung, Fotos vom Richtfest und einer Spritztour mit dem ersten eigenen Auto, einem DKW 3=6..... Buttercreme Torten, Familienfeste, gemütliche Karten-Runden mit befreundeten Ehepaaren, und mir fällt auf, die Menschen werden fülliger. Es herrschte jedoch weiterhin eine unangetastete Gesellschaftsordnung, Vater verdient das Geld, basta, und seine Frau benötigte die Erlaubnis von ihm, wenn sie dies ebenfalls wollte. Einer Ehefrau und Mutter plus einem Ehemann, welcher nicht mal Eier kochen konnte, oblag die Pflicht, perfekt zu kochen, backen und putzen, sich um Windeln und Kinder kümmern, und die große Wäsche makellos sauber zu rubbeln.

Die nachfolgenden Fotos vermitteln den Eindruck eines ruhig dahinplätschernden, straff organisierten Alltags. War man damals damit zufrieden "nur" zufrieden zu sein ? Oder schlummerten Fragmente verbotener Träume, welche vor diesem arg strapazierten Mantra "uns geht's doch gut" kapitulierten ? Fast alle Fotos zeigen mir ständige Wiederholungen, der Urlaub in Zell am See, die Karten-Abende, (an denen um 22:00 Uhr kleine Häppchen oder gar Torte gereicht wurden,) zahlreiche Geburtstagsfeiern, Schnappschüsse von sich immer wiederholenden Ausflügen in die nähere Umgebung. Mir fällt auf, sowohl meine Mutter als auch mein Vater schauen ernst, wenn es hieß "guck doch mal …. und klick." Auch fehlen jetzt häufiger liebgewonnene Gesichter, Onkel, Tanten, Freunde, auf den Bildern, die Omas und Opas vermisste ich bereits schon länger.

Und dann sitzt eine Frau jenseits der achtzig, zahlreich betitelt als „Mutter“, „Oma“ „Uroma“ und „Witwe“, inmitten ihrer Kinder und Enkel als Älteste im Bild. Die jetzt farbigen Ansichten dokumentieren dennoch eine für sie düstere Zeit, nun allein lebend in einem zu groß gewordenen Haus, in dem sie sich zwar wohlfühlt, doch sicherlich auch oft sehr einsam.

Ich füge nun das letzte Foto zu ihrem Lebenslauf auf Zelluloid, eine berührende Szene diese zeigt sie mit dem ersten Urenkel, ein Bildnis, welches erzählt vom ewigen Kreislauf des Kommens und Gehens...

Autor: galen

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