Eine Betrachtung
Lore übersah es, wenn die Mutter ihr den von Altersflecken bereits faltigen Handrücken zeigte; mit den immer wieder gleichen Worten „Schau nur ich werde alt…“. Lore befremdete dies, sie zuckte dann mit den Schultern, eine Geste verlegener Gleichgültigkeit.
Lange nach ihrer Mutters Tod dachte sie, ich hätte sie damals in den Arm nehmen sollen, samt ihrer schrumpeligen nimmermüden Hände.
Als Lores Vater dann erkrankte, diese einst starke Persönlichkeit, welche stets die sämtlich wichtigen Dinge zufriedenstellend regelte, streiften ihre Blicke scheu seine vom Schlaganfall gekrümmte rechte Hand; sie hatte nicht vergessen, mit welcher Kraft diese Hand einst zu strafen vermochte.
Später, viel, später, dachte sie, was wäre wenn sie die kranke Hand damals ergriffen und gestreichelt hätte?
Hätte dies eventuell zu einer Versöhnung gereicht?

Lore hörte die Mahnung ihrer bereits alten Tanten und Onkel. In ihren Ohren klang sie wie eine Drohung: „Wart’s nur ab, du wirst noch an unsere Worte denken, irgendwann werden alle alt, das geht schneller als du denkst!“
Doch sie tröstete sich stets mit der Gewissheit; das dauerte ja noch 100 Jahre!
Tante Leni, die Schwester der Mutter und Lores Patentante, betrachtete kritisch ihren imposanten Truthahnhals, und schnell wegschauend strich sie sich dann über das schüttere, weißgraue adrett gewellte Haar, das frisch frisiert ihrem Spiegelbild schmeichelte. Doch meist wurde ein Spiegel ignoriert, weil den Verfall des Körper zu betrachten enorm viel Kraft erforderte.
Wie konnte man da seinem Spiegelbild entspannt zulächeln? Wenn die Zeit gefräßig zerstörte, was einst stolz mit Freuden angeschaut?
Eines Tages entschloss sich die Mutter, ihrem Gatten die ‚eheliche Pflicht‘ zu verweigern und streikte das erste Mal in ihrem Leben. Ohne Angst, nicht zu genügen, denn ihr Körper verspürte wenig Lust auf verordnete Lust. Zwar versuchte ihr Mann, ‚sein Recht‘ einzufordern, was natürlich inzwischen längst kein Recht mehr war und dies bestärkte sie, ihre zurück eroberte Keuschheit als einen Sieg zu feiern.
Ihr Alltag trug die Farbe der Gewohnheit und die Gespräche verstummten kurz nachdem sie begannen. Tagträume nisteten in den Gedanken, Erinnerungen wurden zu heller Wirklichkeit, die für Momente lächelnd verband.
Gemeinsam bei Tisch aßen sie schweigend die gewohnten Gerichte und ein Geruch von Stille nistete zäh in den Winkeln der Räume.
Ihre Kinder kamen, doch waren nicht gern Zeuge vom steten Verfall der Lebenskräfte.
Zurück im prallen Leben, sorgten sie sich dennoch, was wäre wenn die Eltern... völlig hilflos?
Solch dunkle Gedanken lösten sich rasch auf im Getümmel ihres abwechslungsreichen, prallen Alltags.
Und wenn die Zeit nicht mehr zum Wachsen dient, schleicht diese nur noch um die Zeiger der Uhren, verhöhnt die wachen Stunden und verdoppelt die Nächte.
Selbst kurze Wege werden lang, doch sie bleibt bei ihm, als sein Körper die einfachsten Dinge verweigerte.
Selbst alt, ist sie für ihn da, doch voll ängstlicher Sorge, er könne noch vor ihr seine Augen schließen.
Und dann verließ er diese Welt still vom Tod geführt ins unbegrenzte Licht.
Von da an fühlte sie sich nur noch halb und dem Hunger des Verblassens hilflos ausgeliefert!
Sie spürte nicht mehr die Freude unbekümmerter Freiheit, und längst vergessen waren all die bunten Träume.
Die Kinder kamen, doch sie blieben nicht, manchmal lächelte die Mutter als sähe sie etwas, welches den anderen verborgen blieb und ihre Haut roch hin und wieder nach frischer Wintererde.
Und als der Tod auch sie berührte, in ihrem Haus ganz allein – war Lore die Zweitgeborene nicht bei ihr...
Die Mutter hätte ihr sicher noch ‚etwas‘ sagen wollen, vermutete Lore lange bedauernd.
Es könnte so gewesen sein, denn auf dem Antlitz der Verblichenen leuchtete der Frieden nicht...
Artikel Teilen
Artikel kommentieren