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Lisa

Lisa war das jüngste von zehn Kindern. Ihre Eltern hatten sehr viel Arbeit und niemand fand Zeit, dem kleinen Mädchen Geschichten und Märchen zu erzählen. So dachte sie sich einfach selbst welche aus. Sie lebte als Prinzessin oder Fee in einer Zauberwelt, lauschte dem Zwitschern von goldenen Vögeln und schritt durch Korallenwälder, in denen Wunderblumen betörenden Duft verströmten.

Erwachsen geworden, hatte Lisa selbst zwölf Kinder. Außerdem hielt sie zehn Hühner, einen Hahn und zwei Ziegen und pflanzte im Garten Gemüse und Kartoffeln an. Die junge Frau las ihren Kindern Gute-Nacht-Geschichten aus Märchenbüchern vor, aber sich selbst welche ausdenken, dazu kam sie vor lauten Sorgen und Schaffen nicht mehr.

Die Jahre vergingen. Eines Tages war Lisa alt. Ihr Mann starb, die Söhne und Töchter lebten weit weg von ihr. Sie verkaufte das riesige leere Haus und zog in die Stadt. Jetzt hatte sie wieder viel Zeit und fing wie früher an, am hellen Tag mit offenen Augen zu träumen. Sie sah ihre Söhne als Millionäre, ihr Töchter als schöne, berühmte Filmschauspielerinnen.

An einem Sommermorgen saß Lisa am Frühstückstisch. Viele Kerzen brannten, Kaffee und Brötchen schmeckte noch besser als sonst, denn an diesem schönen Sommermorgen feierte die alte Dame ihren siebenundsiebzigsten Geburtstag. Seit einer Woche brachte der Briefträger täglich Post von ihren zwölf Kindern und achtundzwanzig Enkeln. Sie hatte, obwohl sehr neugierig, keinen Brief und keine Karte angesehen, sondern alle aufbewahrt. Jetzt saß sie da und las. Die meisten Karten zeigten prächtige Blumensträuße und in goldenen Buchstaben waren Glückwünsche aufgedruckt. In einem Briefumschlag fand Lisa ein Blatt Papier, auf das eine Trauerweide gezeichnet war. Der Baum sah zwar ein wenig bekümmert aus und eigentlich passte er nicht recht zu dem frohen Anlass, aber sie fand die Trauerweide viel schöner als die gedruckten Rosen, Vergissmeinnicht und Anemonen, denn ihr jüngstes Enkelkind hatte das Bild selbst gemalt.

Nach dem Lesen der Post griff die alte Dame zur Zeitung. Aber da stand eine Meldung, die Lisa alle Freude und gute Laune nahm: Eine Vierundachtzigjährige war in ihrer Großstadt-Hochhauswohnung gestorben. Niemand hatte sie vermisst. Erst nach sechs Wochen fand man zufällig die Tote.

„Es ist nicht schön, betagt und einsam zu sein“, sagte Lisa vor sich hin. Seufzend betrachtete sie das Bild, das ihr jüngstes Enkelkind gemalt hatte. „Wüchse ich doch auch als Baum in einem Garten. Viele Kinder würden um mich herumtollen, ich wäre niemals alleine und hätte außerdem noch etliche Jahre vor mir, denn siebenundsiebzig ist kein Alter für eine Trauerweide.“

Da geschah etwas Unbegreifliches. Plötzlich stand Lisa mitten im Stadtpark, ließ grünbeblätterte Zweige wie Schleier herabhängen, ihre Füße waren Wurzeln unter dem gepflegten Rasen und ihr Körper ein starker Stamm mit rauer Rinde. Mütter mit ihren Kindern setzten sich in den Schatten, Hunde tollten herum, Bienen summten und Vögel zwitscherten im Geäst.

Nur dem städtischen Gartenamtsoberverwaltungsdirektor wollte die Trauerweide, die er bei einem Spaziergang in der Mittagspause entdeckte, gar nicht gefallen. Zugegeben, sie sah hübsch aus, aber wo käme man hin, wenn in den Grünanlagen überall Bäume ohne Erlaubnis in die Höhe schießen würden? Er lief in sein Büro, telefonierte zehn städtische Gartenbauarbeiter herbei und ließ sie mit Äxten und Sägen ausrücken, um die dreiste Weide zu fällen.

Als Lisa die Männer mit ihren in der Sonne gefährlich funkelnden Geräten näherkommen sah, ahnte sie, was ihr bevorstand. Sie fürchtete sich sehr, doch dann dachte sie: Wenn ich mich an meinem siebenundsiebzigsten Geburtstag in einen Baum verzaubern kann, so dürfte es mir auch nicht schwer fallen, wieder mein altes Ich anzunehmen. Schon saß sie auf ihrem Sofa. Die Kerzen brannten, der Kaffee stand, zwar inzwischen kalt, noch auf dem Tisch. Lisa aß ein halbes übriggebliebenes Brötchen und schmunzelte, weil sie sich eine Geschichte so lebhaft ausgedacht hatte, dass sie ihr wie wirklich vorkam. Währenddessen brachten die Gartenbauarbeiter kopfschüttelnd ihre Äxte und Sägen in den städtischen Geräteschuppen zurück.

Von nun an machte es der alten Dame Freude, sich in die verrücktesten Wesen zu verwandeln. Eine Woche nach ihrem Geburtstag war sie ein Hund, der zunächst miauend und schnurrend wie eine Katze, dann blökend wie ein Schaf im Tangoschritt durch die Straßen tänzelte. Doch weil er keine Steuermarke trug, wurde er eingefangen und im Tierheim in einen engen Zwinger gesperrt. Da nahm der Hund schleunigst wieder Lisas Gestalt an, die mit dem Strickzeug daheim vor dem Fernseher saß.

Wenige Tage später lag sie als grauer, moosbewachsener Felsbrocken am Straßenrand und schmetterte laut das Lied vom Wandern, das des Müllers Lust ist. Zuerst bemerkte sie niemand, weil es so wenige Fußgänger gibt und die Leute in ihren Autos achtlos vorbeifuhren. Als Lisa sang: „Die Steine, selbst so schwer sie sind, sie tanzen mit dem muntern Rhein“, kamen ein paar fahrradfahrende Kinder auf dem Weg zur Schule daher. Sie blieben stehen, wunderten sich und lauschten. Lisa gefiel die Strophe; sie wiederholte sie drei-, viermal und darum kamen aus der Klasse 5b von sechzehn Schülern neun zu spät. Als diese ihrem Lehrer von der Ursache für ihre Unpünktlichkeit erzählten, wurde er sehr böse:

„So eine blöde Ausrede habe ich noch nie gehört. Uhren gehen nach, Autobusse halten den Fahrplan nicht ein, aber ein singender Stein am Wegrand...“ Mitten im Satz brach er ab und rannte wutschnaubend zum Direktor, um sich über seine Schüler zu beschweren. Als er dessen Büro betrat, raufte dieser sich gerade die Haare, weil seine halbe Klasse erst dreiviertel Stunden nach Schulbeginn eingetrudelt war und dies ebenfalls mit der unglaublichen Geschichte vom liedchenträllernden Felsbrocken entschuldigen wollte.

„Ich werde der Sache auf den Grund gehen“, schrie der Direktor und rief die Polizei an. Ein Streifenwagen fuhr hinaus und die beiden Beamten fanden tatsächlich den singenden Stein. Was sollten sie machen? Verhaften? Dreiundzwanzig Kinder waren seinetwegen zu spät in die Schule gekommen, doch abgesehen davon hatte der Felsbrocken sich nichts zu Schulden kommen lassen. Die Polizisten standen ziemlich ratlos herum. Inzwischen erfuhr auch ein Reporter von dem seltsamen Stein. Er eilte mit Notizblock, Kamera und Blitzlicht herbei, schoss Fotos, stellte Fragen, die niemand beantworten konnte und vermutete Schlimmes: „Vielleicht hat eine Gangsterbande den Felsbrocken hierher gelegt. Während die Mannschaft des einzigen Streifenwagens unseres Bezirks herumsteht und sich wundert, rauben die Ganoven eine Bank aus.“ Die Polizisten flitzten zum Auto und fragten über Funk beim Kommissariat nach - doch nichts Außergewöhnliches war gemeldet.

„Vielleicht stammt der singende Stein aus dem Weltall?“ vermutete der Reporter nun. „Er könnte als Sternschnuppe auf die Erde gefallen sein.“
„Das ist ein Fall für Experten“, entschied der ranghöchste Polizist. Er ging zum Streifenwagen und informierte die Hochschule. Beim Zurückkommen verkündete er: „Gleich wird der Stein abgeholt und ins Forschungslabor gebracht. Man will ihn untersuchen, fotografieren, durchleuchten, röntgen, mit Infrarotstrahlen erforschen.“ Das machte Lisa Angst. Schleunigst gab sie es auf, ein Stein zu sein.

Die Polizisten staunten zunächst, als der Felsbrocken so plötzlich verschwand. Dann setzten sie sich in ihren Dienstwagen, durchstreiften die Straßen auf der Suche nach Falschparkern, stellten Strafzettel für die Verkehrssünder aus, um auf diese Art zu beweisen, wie unentbehrlich sie sind. Der Reporter wunderte sich kein bisschen, denn in seinem Beruf erlebt man täglich die tollsten Sachen. Am Morgen hatte er im Radio eine kurze Meldung über einen Hund gehört, der mit zwei Köpfen geboren worden war. Er eilte nach Hause und verfasste einen Sensationsbericht unter der Überschrift: ‚Doppelhäuptiger Dackel schockt Kleinstadtbewohner’. Dann machte er Feierabend - den singenden Felsbrocken hatte er längst vergessen. Die Leute vom Forschungsinstitut fanden an der besagten Stelle keinen musikalischen Stein vor. Sie fuhren kopfschüttelnd zum Labor zurück und hielten den Telefonanruf für einen dummen Streich.

Am nächsten Nachmittag saß Lisa zu Hause und überlegte, in was sie sich jetzt verwandeln könne, sie trachtete danach, etwas zu erleben, um nicht immer an die Zeitungsmeldung von der alten Frau, die man erst sechs Wochen nach ihrem Tod gefunden hatte, denken zu müssen.

Es schellte an der Wohnungstür. Die Nachbarin stand mit ihrer Tochter davor. „Könnten Sie vielleicht ...? Hätten Sie etwas Zeit?“ stammelte sie ziemlich verlegen. „Ich muss zum Arzt. Trotz Termin sitzt man da oft Stunden und wartet. Brigitte wird unruhig, wenn ich sie mitnehme...“
„Ich verstehe“, sagte die alte Dame. „Lassen Sie Ihr Töchterchen so lange bei mir.“ Lisa war verstimmt. Schließlich wollte sie sich verwandeln, wenn sie auch noch nicht wusste, in was. Aber sie nahm die Kleine mit in die Wohnung und erzählte ihr den ganzen Vormittag Geschichten. Das Mädchen hörte begeistert zu. Lisa redete, bis ihre faltigen Wangen vor Eifer glühten. Sie vergaß die traurigstimmende Zeitungsmeldung und wurde richtig froh. Als die Mutter die Kleine gegen zwölf Uhr abholte, sagte die alte Dame: „Wenn Sie wieder einmal etwas zu besorgen haben, so schicken Sie Ihr Töchterchen ruhig zu mir. Es macht viel Vergnügen, auf sie Acht zu geben.“

Im Viertel hat es sich herumgesprochen. Die Mütter bringen ihre Kinder zu Lisa. Sie schenken ihr Blumen und erkundigen sich nach ihrem Wohlbefinden. Dann erledigen die Frauen ihre Arztbesuche und Behördengänge, kaufen auf dem Rückweg für die alte Dame ein, wenn diese die Wohnung nicht verlassen kann, weil das Rheuma sie plagt.

Lisa hat die Zeitungsmeldung von der einsamen toten Frau völlig vergessen. Sie denkt sich für die Nachbarskinder immer neue Geschichten aus. Gestern besuchte ich sie. Zwei kleine Mädchen und ein Junge saßen in ihrem Wohnzimmer und lauschten andächtig. Lisa erzählte ihnen das Märchen von der alten Frau, die sich an ihrem siebenundsiebzigsten Geburtstag in eine Trauerweide verwandelte.

Autor: Niagara

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