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Etti hat das Wort: Der Schweigsame

Endlich! Paul hat nach langer Zeit wieder zu malen begonnen. Er malt mit einer Geschwindigkeit, als wollte er ins Guinnesbuch der Rekorde. Mathematik, Physik, Botanik und Französischlernen - ade! Alles machte er mit dem gleichen Eifer und der Intensität wie jetzt wieder das Malen. Nicht von jedem ein wenig - nein, wenn schon, denn schon! Mein schweigsamer Paul hat viele Leidenschaften, und sie glaubt, dass diese ihm das Leben schwer - ihn unzufrieden machen - dass sich hinter seiner Schweigsamkeit ein quälendes Innenleben verbirgt.
Nur das Autofahren hat er sich wohl ganz aus dem Kopf geschlagen. Fahren konnte er ja, aber schalten, Gas geben, bremsen und noch die anderen Fahrer im Auge behalten, das waren zu viele Dinge auf einmal ...
Ständig waren ihm die anderen Fahrzeuge im Weg. Zuletzt kam doch so ein knallroter Sportwagen über die Autobahn gezischt, dessen Fahrer es einfach nicht für nötig hielt, sein Tempo zu drosseln, um Paul in die Autobahn einfahren zu lassen. Na, dem hat er es aber gegeben...

Danach fiel Paul die Entscheidung schwer - ein neuer Wagen oder Bundesbahn? Diese Wahl muss ihn ordentlich gepiesackt haben, wo ich mich doch dieses Mal geschlossen hielt - und ihn nicht zu einem Wagenkauf ermuntert habe. Vernünftigerweise hat er sich dann für die Bundesbahn entschieden. Das hieß natürlich, total autofrei zu sein - auch für mich. Schwer, aber besser als in ständiger Angst zu leben oder vielleicht durch weitere Wagenkäufe in den Bankrott zu steuern.
Jetzt hoffe ich, dass er bei der Malerei bleibt. Malen kann er nämlich, und es scheint ihm auch was zu geben. Ich finde es toll, denn ich mag sehr den Geruch der Farben. Er gibt der Wohnung die Atmosphäre eines Künstlerateliers, eines Raumes voller Phantasien - voller Träume, die man sieht, spürt und riecht. Ich mag auch Pauls kleine Pausen zwischen Blumen und Wiesen, wenn er in seinem farbbeklecksten Kittel selbst wie ein abstraktes Kunstwerk vor der Staffelei steht und seinen Kaffee schlürft. Manchmal stehe ich mit der Kaffeetasse in der Hand hinter ihm. Und dann fragt er ohne aufzusehen: "Haste wieder was zu knöttern?"
Meistens spüre ich an seinem Tonfall, wenn er selbst nicht so ganz mit seiner Arbeit zufrieden ist, denn die feinen Nuancen von Rot und Grün zu unterscheiden, macht ihm Schwierigkeiten. Dann kann ich es wagen, mehr zu sagen, ohne daß er gleich an die Decke geht:
"Das Rot ist viel zu grell", oder, "das Grün passt nicht".
Seine Antwortet weiß ich natürlich schon immer vorher:
"Nu geh', ich rede dir doch auch nicht beim Schreiben rein". Dann nimmt er den Pinsel, tupft hier, tupft dort und fragt: "So besser?"
Dann habe ich das schöne Gefühl, daß er mich doch braucht.

Und mit seinem "Ich rede dir beim Schreiben doch auch nicht rein" stimmt es nicht so ganz. Oft versteht er meine Gedanken nicht (logisch, er ist ja auch ein Mann) und mauschelt in meinen Sätzen rum. Das missfällt mir natürlich. Ich brauche ihn doch nur bei den Kommas...

Heute ist Paul mürrisch, betrachtet prüfend seine Leinwand, rückt lustlos die Staffelei hin und her, drückt mit seinen verschmierten Händen die Gardine fester in die Ecke, um mehr Licht zu haben. Dann geht er in die Küche, und es dauert nicht lang, bis der Geruch von Farbe und Terpentin sich mit dem Duft von Kaffee vermischt.
"Die Birke vor dem Fenster muss weg, sie nimmt mir zu viel Licht", sagt er kurz.
Aha! Deshalb sein brummiges Gesicht. Habe ich es doch geahnt. Dieses Thema sollte längst abgehandelt sein. Es wunderte mich schon, daß er so lange nicht mehr davon gesprochen hat. Schade für den Baum. Aber Widerspruch hätte zur Folge, daß Pinsel und Palette für immer ihren Platz im Keller finden würden und aus dem Kassettenrecorder vielleicht wieder nur französische Lieder oder Vokabeln zu hören wären. Ich könnte dann noch nicht einmal mehr knöttern, eine Sprache ist nun mal nicht rot oder grün...

Autor: Rosewittchen

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