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Nachbarn

Seit Wochen ist die Hitze unerträglich. Jeder im Haus empfindet die Sonne wie einen ungebetenen Gast - einen Gast, der einfach kein Feingefühl besitzt. Jeder versucht ihm auf seine Weise aus dem Weg zu gehen. Ich zum Beispiel sitze in der Küche am geöffneten Fenster, den Stuhl nach hinten gekippt, gegen den Kühlschrank gelehnt. Ja, ich weiß, das ist in meinem Alter unpassend und gefährlich dazu. Im vorigen Jahr bin ich schon einmal umgekippt, habe wochenlang meinen rechten Arm in Gips getragen. Aber das hat mich nicht von dieser vermaledeiten Schrankelei abbringen können.
Paul steht schwitzend aber standhaft wie ein Zinnsoldat vor der Staffelei und malt paradoxerweise an einer Winterlandschaft. Der sonst so angenehme Geruch der Farben, den ich so mag, scheint nur heiß und zäh die Nase zu passieren.

„Hör auf mit dem Stuhl zu wippen“, sagt Paul kopfschüttelnd, du wirst wohl nie gescheit, was?“
„Und du gib Acht, dass dir bei deinem eiskalten Motiv nicht die Finger steif werden!“ kontere ich lachend.

Herr Olaske aus dem ersten Stock ist in seiner Wohnung, die er nur noch selten verlässt. Seit einiger Zeit ist er sehr krank, lehnt aber jegliche Hilfe ab.
Frau Hanter und Fräulein Knittel sind da weitsichtiger. Sie haben mir ihre Wohnungsschlüssel gegeben - für den Notfall. Sie sitzen im Schatten des alten Apfelbaumes der zum Glück großspurig seine Äste weit über den Rasen breitet und sich damit wenigstens als Schattenspender nützlich macht. Im Frühling prahlt er genauso großspurig mit zauberhaften Blüten und wirft dann im Herbst nur kleine wurmstichige Äpfel.

Wie gut, dass ich aus diesem verwilderten Flecken Erde einen Garten gemacht habe. Es ist ein schöner Garten geworden. Wenn es im Frühling Apfelblüten schneit, steht Emma, die Vogelscheuche, wie auf einem weißen Teppich, herausgeputzt mit einer weißblau gestreiften Schürze, einem langen Rock, einer weißen Bluse und einem großen Strohhut auf dem Kopf. Und wenn der Wind die Äste bewegt und Blüten auf Emma herab regnen, erwacht vielleicht bei dem einen oder anderen die Erinnerung an das Mädchen aus Sterntaler, das im nächsten Augenblick die Schürze heben wird, um das Glück aus dem Himmel aufzufangen. Immer öfter tauscht jemand von den Hausbewohnern für eine Weile die Einsamkeit der Wohnung mit dem Platz unter dem Apfelbaum.
Oben im Dachgeschoß wird seit Wochen gehämmert und gezimmert.
„Der Lärm ist unzumutbar. Ob die das ganze Haus abreißen?“, klagt Fräulein Knittel.
„Es ist nun mal nicht zu ändern“, kam Frau Hanters beruhigende Antwort. „Es wird ja nicht ewig dauern“.
Eigentlich ist sie mehr betroffen als Fräulein Knittel. Sie wohnt direkt unter Frau Patzkes Dachgeschoßwohnung, in die jetzt junge Leute ziehen werden. Frau Patzke musste in ein Pflegeheim.
„Ich gehe in ein Pensionat für alte Mädchen, meine Beene wollen nicht mehr so recht“, hatte sie gesagt. Es sollte scherzhaft klingen. Aber in ihrer Stimme war Resignation zu spüren.
Fräulein Knittel schimpft unaufhörlich: „Die jungen Leute sind noch nicht einmal verheiratet“!
Frau Hanter schaut belustigt zu mir rüber und lacht ihr helles Achtzig-Lenze-Lachen.
„Wir müssen mit der Zeit gehen, Fräulein Knittel, die Jugend ist heute eben anders. Die Hauptsache ist doch, dass wir mit ihnen und sie mit uns zurechtkommen. Freuen Sie sich doch, dass endlich wieder Leben in unser Haus, und vielleicht auch in uns kommt“.

Ein leichter erfrischender Wind tut sich auf und lässt auf Kühlung hoffen. So entschließe ich mich, auch in den Garten zu gehen. An der Kellertreppe kommt mir Fräulein Knittel entgegen. Ihre roten entzündeten Augen sprühen förmlich vor Empörung:
„Das hat es früher nicht gegeben, unverheiratet und zusammen wohnen. Dass ich das noch erleben muss! - Neues Leben in uns bringen, so‘n Unsinn! In mir ist noch Leben!“ Und bevor ich etwas erwidern kann, ist sie auf ihren flinken Beinen auf und davon.

„Manche werden im Alter wunderlich“, sagt Frau Hanter, als ich mich neben sie setze. - Sehr abgespannt und müde sieht sie aus. So kenne ich sie gar nicht, ihre Augen funkeln und sprühen sonst vor Übermut. Es wird die Hitze sein. - Eine erstaunliche Frau, diese Frau Hanter. Sie kann mit ihrem Lachen die Menschen beglücken. Ein Ausspruch von Christian Morgenstern kommt mir in den Sinn: „Lachen und Lächeln sind Tor und Pforte, durch die viel Gutes in den Menschen hineinhuschen kann“.
- Er könnte es für sie geschrieben haben...

Der leichte Wind und die unruhigen Lichteffekte der untergehenden Sonne bringen ein wenig Leben in die Trägheit des Gartens. Nur das Leinengesicht von Emma, der Vogelscheuche, bleibt teilnahmslos.
Frau Hanter ist eingenickt. Wie in Zeitlupe neigt sich ihr Kopf mit den weißen Locken nach hinten. Das gebräunte faltenreiche Gesicht ist jetzt weich - weich wie ausgetrocknete Erde nach einem Regen ... - Was lässt sie nur so heiter leben, als hätte sie noch alle Zeit der Welt? Es scheint, als stünde sie dem Leben überlegen gegenüber, als hätte sie die Zeit ausgeschaltet. - Ob dies das Geheimnis eines unbeschwerten Alters ist, zeitlos leben? - Ein schöner Gedanke.

Autor: Rosewittchen

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