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Die Zeichenlehrerin

Mit ihrer hageren Figur und den herben, fast männlichen Gesichtszügen war sie ein sehr ernster und emotionsloser Mensch.

Es umgab sie ein Geheimnis, dessen Ursache verschiedene Gerüchte waren, die unter ihren Schülerinnen kursierten. Aus irgendeiner Quelle hatte man gehört, Mademoiselle Baudet habe im Krieg durch deutsche Soldaten Schlimmes erlitten und habe einmal verlauten lassen, dass sie nie wieder ein deutsches Wort über ihre Lippen brächte.

Außer Naturkunde gab die Lehrerin auch Zeichenunterricht, und seit einigen Wochen nahm ich, als einziges deutsches Mädchen, am Zeichenunterricht teil. Aber ich fühlte mich nicht recht wohl, denn nicht nur einige belgische Mitschülerinnen benahmen sich mir gegenüber abweisend, auch das ablehnende Verhalten von Mademoiselle Baudet blieb mir nicht verborgen, ja, ich wurde von der Lehrerin völlig ignoriert.

Da meine Kenntnisse in Französisch noch bescheiden waren, wagte ich nicht den Mund aufzumachen, geschweige denn ein deutsches Wort zu sprechen.

Und nun standen die Weihnachtsferien bevor.

Mademoiselle Baudet hatte für jede Schülerin Tusche und eine Tuschefeder besorgt, womit die Schülerinnen den Umgang mit diesem Zeichenmaterial lernen sollten.

Die erste Aufgabe bestand im Zeichnen von zwei weihnachtlichen Motiven. Kerze und Tannenzweig. Diese Motive sollten sich im Wechsel nebeneinander mehrfach wiederholen, um wie eine Bordüre zu wirken. Kerze – Tannenzweig – Kerze – Tannenzweig.

„Aber zeichnet sie zunächst mit Bleistift vor“, empfahl die Lehrerin.

Nachdem ich eine Kerze und einen Tannenzweig gezeichnet hatte und dasselbe noch drei- oder viermal wiederholen sollte, fand ich das ausgesprochen langweilig.

Stattdessen erschien es mir sinnvoller, Maria mit dem Jesuskind in der Krippe zu zeichnen. Also begann ich mit Bleistift das Profil der Gottesmutter zu entwerfen und tauchte dann die Feder ins Tuschefass.

Währenddessen wanderte Mademoiselle von Tisch zu Tisch, machte hier eine Bemerkung, korrigierte dort eine Linie und gab Tipps. Als sie meine Zeichnung sah, stutzte sie, ging aber wortlos weiter.

Am Schluss der Stunde wurden die Blätter mit Namen versehen und zum Trocknen auf den Tischen liegen gelassen. Mademoiselle würde die Zeichnungen später einsammeln, um sie zu bewerten, wobei die 20 als bestmögliche Punktezahl galt.

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Am nächsten Tag konnten die Schülerinnen ihr Werk bei Mademoiselle wieder abholen. Ein wenig verklemmt stand auch ich vor der Lehrerin, um mein Krippenbild in Empfang zu nehmen und rechnete schon mit der mürrischen Bemerkung „Thema verfehlt“.

Als die Lehrerin mir das Krippenbild zurückgab, sagte sie leise:

„Sehr gut, 20 Punkte.“

Und zum ersten Mal entdeckte ich einen Hauch von Lächeln auf ihrem Gesicht.

Zeichnung von Maria und Jesus in der Krippe

Autor: fleurbleue

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