Der Spiegel
Ein Spiegel hat es nicht leicht. Was bekommt der nicht alles zu sehen, oft hinter fest verschlossenen Türen. Oh weh, wenn er plaudern könnte … Weil er es zu unserem Glück nicht kann, sind wir der irrigen Meinung, dass uns keiner sieht. Doch ist er, der Spiegel, vielleicht keiner?!
Der Arme! Er soll bei der Wahrheit bleiben, uns aber doch, wenn möglich, ein nettes Bild von uns zeigen. Das fällt ihm manchmal schwer. Mit den weiblichen Personen steht er gelegentlich sogar richtig auf Kriegsfuß, besonders, wenn diese eine Aufmunterung brauchen, dann staucht er sie rachsüchtig zusammen. Morgens, wenn seine Herrschaft so recht zerknittert mit müden kleinen Augen, grauer Haut, wirren Haaren gähnend vor ihm steht, die Herren unrasiert, aber gut gelaunt, weil ausgeschlafen, die Damen missmutig, weil der Gatte wieder so rücksichtslos geschnarcht und sie um den Schönheitsschlaf gebracht hat, dann steckt er in einer Zwickmühle.
Manchmal ist er aber auch nett zu den Damen. Er ist schließlich männlich und hat es gern, wenn so ein weibliches Wesen ihn anlächelt. Dann überlegt er einen Moment, wie er sich verhalten soll, versteckt sich hinter Wasserdampf und entscheidet sich schließlich zum Mogeln. Nur ein bisschen, aber doch so viel, dass die Dame weiter lächelt. Es gibt allerdings auch, das muss hier einmal tadelnd angemerkt werden, ungezogene Frauen, die strecken ihm dann, wenn ihnen das eigene Konterfei nicht gefällt, doch glatt die Zunge heraus! Das kränkt einen Spiegel, das hat er schließlich nicht verdient. Er tut auch nur seine Pflicht und spiegelt wider, was er sieht. Aber wenn eine Frau ihn bittend anschaut, dann sieht er geflissentlich – manchmal aber nur, wenn er die Person sehr mag! – über die Falten hinweg oder schaut bei einer Ganzkörpergegenüberstellung nicht auf das, was da ein bisschen müde hängt und gaukelt ihr vor: „Ist doch eigentlich nicht so schlimm, hm, eigentlich bist du doch noch einigermaßen passabel!“ So charmant – oder sollte ich besser sagen so schlau? – ist er aber nur bei den Damen und auch nur gelegentlich bei denen, die ihm immer höflich begegnen und lieb lächeln oder – das höchste für ihn – ihm sogar dankbar für die kleine Mogelei ein Küsschen zuwerfen. Da lächelt er glücklich zurück. Schlechte Manieren dagegen ahndet er mit aller Härte der Wahrheit.
Bei den Herren muss er gar nichts tun außer seiner Pflicht. Die schauen nicht kritisch, schon gar nicht ganzkörperlich kritisch, die finden sich immer schön und attraktiv. "Schon OK“, sagen sie selbstzufrieden, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, sich einmal zur Gänze im Profil anzuschauen. Das freut den Spiegel, denn diese Sorte Mensch verursacht ihm keine besondere Mühe. Allerdings können die Herren, wenn sie sich, abgesehen vom stummen Spiegel, unbeobachtet wähnen, auch äußerst schlechte Manieren vor dem Spiegel oder in dessen Nähe entwickeln. Aber er ist, wie gesagt, selbst männlich und ist tolerant, das heißt, er macht für einen Moment die Augen zu!
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