Wiedersehen nach 60 Jahren
Wir lebten von 1941 bis zur Flucht im Jahre 1945 in Posen. Meine Mutter hatte bereits zwei Söhne, und ich wurde erst 1944 geboren. So bekam unsere Mutter ein polnisches Kindermädchen, eine blutjunge Vierzehnjährige, die von unserer Mutter wie ein eigenes Kind aufgenommen wurde. Halina kümmerte sich rührend um uns Kinder, ich habe jedoch keinerlei Erinnerung an sie.
Im Januar 1945 mussten wir in einem eisigen Winter Posen verlassen und befanden uns mehrere Tage auf der Flucht nach Berlin. Jeder Kontakt brach ab, alle hatten mit dem Überleben, mit Hunger und Krankheit zu tun. Mein Bruder ging auf der Flucht verloren und wurde erst nach sechs Monaten an der Hand einer Frau beim Anstehen mit Lebensmittelkarten wiedergefunden. Ich hatte Diphtherie, Keuchhusten, Hungerkrämpfe und blieb in der Entwicklung weit zurück.
So nahm die Nachkriegszeit ihren Lauf, Mutter sprach manchmal von Halina, mehr wussten wir nicht. Bei einem Umzug im Jahre 2005 fanden wir in einem alten Karton alte Papiere, unter anderem die Arbeitsunterlagen von Halina. Wir begannen nachzuforschen, es dauerte eineinhalb Jahre, bis wir sie in Posen ausfindig machen konnten. Dabei war uns ein polnischer Journalist behilflich, der einige deutsche Worte sprach; sie hatte ja durch Heirat ihren Namen geändert. Wir planten, sie nach 60 Jahren zu besuchen; sie war inzwischen 75 Jahre alt. So schrieben wir ihr einen Brief, den wir ins Polnische übersetzen ließen, und warteten aufgeregt auf eine Antwort. Die kam nach zwei Wochen, wieder auf Polnisch; ein Bekannter übersetzte ihn für uns, und wir waren erstaunt über die große Freude, die sie mit ihrem Brief ausdrückte.
So fuhren meine beiden Brüder und ich neugierig und aufgeregt nach Posen zu der uns angegebenen Adresse. Es war ein herzzerreißender Empfang: Halina war von Gefühlen überwältigt, weinte vor Freude, hatte Kuchen gebacken, alte Fotoalben herausgeholt, in denen noch Bilder von uns Kleinkindern und unserer Mutter zu sehen waren. Ihr Bruder war dabei, er sprach gut Deutsch und konnte alles übersetzen, und so erfuhren wir, wie schwer es für sie als junges Mädchen war, nachdem wir Posen verlassen hatten. Ohne die Stelle in unserer Familie wäre sie in ein Arbeitslager gekommen. Sie fuhr mit uns zu dem Haus, in dem wir damals wohnten, zeigte uns den kleinen Vorgarten, in dem unsere Mutter damals Gemüse angebaut hatte, um uns satt zu kriegen. Sie erzählte einige Anekdoten von uns Kindern und wie sehr sie uns in ihr Herz geschlossen hatte. Immer wieder umarmte sie uns und weinte, und auch uns kamen die Tränen, zu erleben, wie zugewandt sie uns nach all den Jahren noch war. Unsere Mutter war 1972 gestorben, und wir bedauerten sehr, dass sie dieses Wiedersehen nicht mehr erleben konnte.
Bei der Verabschiedung wollte sie uns gar nicht loslassen und sagte, wie glücklich sie sei. Sie habe sich das immer gewünscht, und ihre Gebete seien nach so langer Zeit in Erfüllung gegangen – nun könne sie in Frieden sterben. Nach sechs Monaten bekamen wir die Nachricht, dass sie gestorben ist.
Artikel Teilen
Artikel kommentieren