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Die Gedanken einer Großmutter

Der Geist ist unendlich traurig. Da ist das zarte Kind meiner Großmutter, das einst vom wackeligen Wickeltisch fiel und im düsteren Jahr 1942, kaum zwei Jahre alt, starb. Meine Großmutter bekam später Gebärmutterkrebs. Sie hatte silbergraue, widerspenstige Haare, die sie streng zu einem festen Dutt zusammenschnürte. Ihr fahles, zerfurchtes Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen. Aus einer kleinen, dunklen Warze wuchs ein einsames Haar. Wenn sie betete, schloss sie ihre müden, glanzlosen Augen, als wolle sie sich in eine andere, friedlichere Welt flüchten.

„Manchmal glaube ich, der liebe Gott hat mich vergessen“, flüsterte sie oft mit brüchiger Stimme. Ich teilte mit ihr das enge Schlafzimmer, nachdem ihr schweigsamer Mann gestorben war. An der Wand stand ein klobiger, brauner Wäscheschrank, dessen Holz dumpf nach Staub und alten Zeiten roch. Es war stickig, muffig, und doch war mir das gleichgültig.
„Wie soll das nur weitergehen in diesem Leben?“, seufzte sie manchmal. Oder sie fragte mit leiser Angst: „Junge, was passiert, wenn man gestorben ist?“
Sie betete anfangs noch, murmelte mit zittrigen Lippen: „Der Herr ist mein Hirte… mir wird nichts mangeln… Er weidet mich auf einer frischen Aue…“
Ich hörte die Worte, aber verstand sie kaum. „Ich weiß doch nicht, was nach dem Tod passiert“, dachte ich.
Leise sagte ich: „Ich weiß es nicht, Oma.“
Einmal, an einem warmen Sommermorgen, wachte ich sehr früh auf. Das fahle Licht des Morgens kroch durch die Ritzen der Gardinen. Ich trat leise ans Fenster. Draußen lag feuchter Nebel sanft über dem schmalen Fluss. Ich spürte, dass dies ein magischer, beinahe heiliger Moment war.
Meine Großmutter – oder vielleicht ihr rastloser Geist – fühlte sich damals einsam, verlassen, vergessen. Alleingelassen mit ihrer dumpfen Verzweiflung und dem unaussprechlichen Leid. Ihr Geist konnte das kalte Haus nicht verlassen, gefangen in der Erinnerung, unfähig zu begreifen, dass dieses Leben längst vorbei war.
Ich sitze heute noch manchmal auf halber Treppe, zusammengekauert, unsicher, hilflos. Und ich glaube, ich höre sie flüstern: „Bleib ein wenig bei mir, Junge… ich habe Angst.“

Autor: Jorgito56

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