Die Sommerferien standen vor der Tür. Schüler waren wir noch - Dieter und ich. In einem Schulatlas machten wir uns bezüglich der Strecke kundig, die vor uns liegen wird, wenn wir sie besuchen. Da waren wir uns nämlich völlig einig – wir wollten sie sehen - sie, diese wunderschöne Frau namens Grace Kelly. Eigentlich hieß sie nach der der Heirat mit Fürst Rainier III. von Monaco Princesse Grace de Monaco beziehungsweise Grace Patricia Grimaldi, doch das interessierte uns nicht. Grace Kelly wollten wir sehen, nicht mehr und nicht weniger. Um das Ziel auch umzusetzen, gab es einige Probleme zu lösen. Schwierigkeit eins: Dieters und meine Mutter durften selbstverständlich nichts von dem wahren Ziel unserer Ferienreise erfahren, denn niemals hätten sie uns erlaubt, per Anhalter durch die Lande zu ziehen. Somit gaben wir vor, eine Radtour in die Schweiz zu planen.
Schwierigkeit zwei: Logistisch mussten wir ganz anders vorgehen, als dies bei einer Fahrradtour üblich ist. Angefangen hat dies schon bei dem mitzuführenden Gepäck, denn wir hatten vor, spätestens nach Erreichen der Schweiz, unsere Räder abzustellen und dann per Anhalter nach Monaco zu trampen. Somit waren Fahrradtaschen für die Reise untauglich. Wir bemühten uns daher um Tornister, wie sie die Soldaten im ersten Weltkrieg noch getragen haben, denn diese Behältnisse – noch mit einem Fell auf der äußeren Hülle - hatten ein relativ großes Fassungsvermögen und ließen sich mit Riemen an den Seiten erheblich vergrößern. Zum Ende der 50er Jahre gab es ja längst nicht solch praktisches Reisegepäck wie heute. Extrem sparsam mussten wir hinsichtlich der mitzunehmenden Utensilien sein, denn alles was wir hatten, vom kleinen Espitkocher bis zu den Tütchen mit Trockensuppe, von Socken bis zum Regenumhang, musste in den beiden Tornistern untergebracht werden. Die Zeltplanen für den Notfall – vier Dreiecke, die jeweils zusammengeknöpft werden mussten – natürlich ohne Bodenplane, wurden im Halbrund um den Tornister gebunden und so waren wir für den schlimmsten Fall gerüstet. Heringe oder gar Zeltstangen wollten wir uns bei Bedarf unterwegs aus Ästen selbst fertigen. Soweit wie möglich war jedoch geplant, in Jugendherbergen zu übernachten. Eine internationale Herbergskarte hatten wir längst besorgt. Kurz, die „Radtour“ war von uns sehr umsichtig vorbereitet worden.
Endlich konnte es losgehen. Noch nicht einmal bis in die Schweiz waren wir mit den Rädern unterwegs. Bis Kempten haben wir durchgehalten, dann die Räder untergestellt und die eigentliche Reise zu Grace konnte beginnen. An manchen Tagen konnten wir erhebliche Strecken als Tramper zurücklegen, an anderen entsprach die Distanz einer Tagestour mit den Rädern. Natürlich konnten wir die Streckenführung nicht immer bestimmen, waren wir vielmehr davon abhängig, welches Ziel der jeweilige Autofahrer hatte, der bereit war, uns mitzunehmen. Hauptsache die Richtung stimmte und nur darauf kam es an. Durch die Schweiz nach Italien, hinunter nach Genua und dann immer an der Küste entlang nach Westen, so lässt sich die Annäherung an Grace Kelly kurz und prägnant beschreiben. Ja, und dann waren wir da. Wir hatten unser Ziel erreicht. In einer Jugendherberge verbrachten wir die Nacht vor unserem großen Auftritt.
Voller Erwartung starteten wir an einem herrlich schönen Augusttag, was nun für Monaco nicht gerade ungewöhnlich ist. Zunächst wollten wir erkunden, wo sich mit größerer Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit ergibt, diese schöne Frau zu sehen. Die Recherchen erwiesen sich viel schwieriger als vermutet.
Und dann der Hammer, der uns regelrecht die Luft in dem kleinen Fürstentum zu nehmen schien. Grace, unsere Grace, sei in einer Klinik, mussten wir erfahren. Unfassbar, kaum in der Lage, diese Nachricht zu realisieren, marschierten wir ziellos durch den Stadtstaat an der französischen Mittelmeerküste. Als wir eine Grünanlage erreichten, von der wir annahmen, dass sich in deren Zentrum die Residenz des Fürsten befinde, marschierten wir niedergeschlagen an einer hohen Mauer entlang. Dann aber die kleine Sensation. Die Mauer endete und ein Zaun gewährte Einblick in das Areal. Voller Verbitterung, Enttäuschung, Zorn, Fassungslosigkeit und vieler anderer dunkler Gefühle, fielen Dieter und ich in eine längst überwunden geglaubte Stufe der menschlichen Evolution zurück, ja in eine, die etwas Animalisches hatte, vielleicht die Botschaft vermitteln sollte: „W i r w a r e n h i e r!“ Wie anders sollte man sonst unser Handeln an diesem Ort verstehen? Beide pinkelten wir durch den Zaun, hinter dem das Fürstenpaar in einem Palast, vermutlich lediglich von Bäumen und der gärtnerisch gestalteten Anlage versteckt, üblicherweise lebte.
Das war's dann.
Epilog: Den kulturellen Rückfall haben Dieter und ich im Laufe unserer Leben wieder aufgeholt. Dieter wurde Professor an einer Uni in Deutschland und ich? Ja, ich habe mich dazu verdonnert, über diesen Frevel im vergangenen Jahrhundert zu berichten.