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AN EINEM SONNTAG

Von hawelli Montag 06.10.2025, 04:49 – geändert Dienstag 28.10.2025, 12:19

schreibt RILKE an seine frau diesen wunderschönen text :

Paris VIe, 29, rue Cassette, am 13. Oktober 1907

"Gleich am Morgen hatte ich von Deinem Herbst gelesen, und all die Farben, die Du in den Brief hinein gebracht hattest, verwandelten sich in meinem Gefühl zurück und erfüllten mein Bewußtsein bis an den Rand mit Stärke und Strahlung. Während ich hier gestern den aufgelösten lichten Herbst bewunderte, gingst Du durch jenen andern heimatlichen, der auf rotem Holz gemalt ist, so wie dieser hier auf Seide. Und das eine reicht an uns heran und das andere; so tief auf den Grund aller Verwandlung sind wir gestellt, wir Wandelbarsten, die mit einer Neigung, alles zu begreifen, herumgehen und die (indem wir es doch nicht fassen) das Übergroße zur Handlung unseres Herzens machen, damit es uns nicht zerstöre. Wenn ich hinaufkäme zu Euch, so würde ich gewiß auch den Prunk von Moor und Heide, das schwebend helle Grün der Wiesenstücke und die Birken neu und anders sehen; zwar hat diese Verwandlung, da ich sie einmal ganz erlebte und teilte, einen Teil des Stunden-Buchs hervorgerufen; aber damals war mir die Natur noch ein allgemeiner Anlaß, eine Evokation, ein Instrument, in dessen Saiten sich meine Hände wiederfanden; ich saß noch nicht vor ihr; ich ließ mich hinreißen von der Seele, welche von mir ausging; sie kam über mich mit ihrer Weite, mit ihrem großen übertriebenen Dasein, wie das Prophezeien über Saul kam; genau so. Ich schritt einher und sah, sah nicht die Natur, sondern die Gesichte, die sie mir eingab. Wie wenig hätte ich damals vor Cézanne, vor Van Gogh zu lernen gewußt. Daran, wieviel Cézanne mir jetzt zu tun gibt, merk ich, wie sehr ich anders ge worden bin. Ich bin auf dem Wege, ein Arbeiter zu werden, auf einem weiten Wege vielleicht und wahrscheinlich erst bei dem ersten Meilenstein; aber trotzdem, ich kann schon den Alten begreifen, der irgendwo weit vorne gegangen ist, allein, nur mit Kindern hinter sich, die Steine werfen (wie ich es einmal in dem Fragment von den Einsamen beschrieben habe). Ich war heute wieder bei seinen Bildern; es ist merkwürdig, was für eine Umgebung sie bilden. Ohne ein einzelnes zu betrachten, mitten zwischen den beiden Sälen stehend, fühlt man ihre Gegenwart sich zusammentun zu einer kolossalen Wirklichkeit. Als ob diese Farben einem die Unentschlossenheit abnehmen ein für allemal. Das gute Gewissen dieser Rots, dieser Blaus, ihre einfache Wahrhaftigkeit erzieht einen; und stellt man sich so bereit als möglich unter sie, so ist es, als täten sie etwas für einen. Man merkt auch, von Mal zu Mal besser, wie notwendig es war, auch noch über die Liebe hinauszukommen; es ist ja natürlich, daß man jedes dieser Dinge liebt, wenn man es macht: zeigt man das aber, so macht man es weniger gut; man beurteilt es, statt es zu sagen. Man hört auf, unparteiisch zu sein; und das Beste, die Liebe, bleibt außerhalb der Arbeit, geht nicht in sie ein, restiert unumgesetzt neben ihr: so entstand die Stimmungsmalerei (die um nichts besser ist als die stoffliche). Man malte: ich liebe dieses hier; statt zu malen: hier ist es...

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