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Schlaganfall

Von Feierabend-Mitglied Samstag 30.09.2023, 22:00

Schlaganfall
Immer sagen sie, ich solle doch meinen linken Arm benutzen. Ich glaube, die Leute wissen gar nicht, dass mein linker Arm in der Reha-Abteilung der Offenbacher Klinik in Zimmer Nr. 408 im Badezimmer hängt. Das, was bei mir links an der Schulter heraushängt, das ist ein nutzloser Anhang, den ich gerne los sein würde. Dieses Anhängsel nutzt mir nichts. Ich komme ohne dieses Teil zurecht. Das, was da ist, gehört nicht zu mir. Ich sehe keinen Grund, nach links zu schauen. Meine Augen wollen das nicht. Da ist nichts, um das sie sich kümmern müssten. Und doch fordern meine Therapeuten mich ständig auf, meinen Kopf nach links zu drehen, um meine linke Seite wahrzunehmen. Dann könnte ich auch wieder mein ganzes Gesicht rasieren und nicht nur die rechte Gesichtshälfte, und ich könnte auch wieder die linke Seite meines Tellers leer essen. Wozu? Ich werde auch so satt! Vormittags kommen meistens die ahnungslosen Neurologen zur Visite. Mit ihren weitschweifigen lateinischen Vokabeln versuchen sie, mir meinen Zustand zu erklären. Ich kann Latein, aber ihre Begründungen hinterlassen nur Rätsel bei mir. Angeblich soll ich durch einen Schlaganfall im Parietallappen meines Gehirns in meiner Sinneswahrnehmung stark eingeschränkt sein. Das würde mich daran hindern, meine linke Seite wahrzunehmen. Das stimmt doch gar nicht, das wüsste ich doch! Wozu erzählen mir diese Narren solch einen Unsinn?
Fast immer besucht mich nachmittags meine Frau. Warum nur hat sie diesen traurigen Ausdruck im Gesicht? Bei mir ist doch alles in Ordnung.
Mit Lisa, meiner netten jungen Ergotherapeutin kann ich mich sehr gut unterhalten. Aber mich nerven ihre ständigen Versuche, meinen sogenannten Neglect nach links zu korrigieren. Was soll das? Ich lasse sie gewähren, vielleicht macht es ihr ja Spaß, meinen linken Arm etwas tun zu lassen, was mein Gehirn als völlig abwegig beurteilt. Am Ende der Übungsstunde scheint sie glücklich zu sein, wenn ich so tue, als arbeitete ich mit. Ich tue das, damit sie zufrieden mit sich selbst ist. Wenn sie die Tür hinter sich schließt, habe ich schon vergessen, was wir geübt haben. Niemals käme ich auf die Idee mit meinem nicht vorhandenen Arm zu trainieren. Wozu denn? Hin und wieder macht sie Übungen am Spiegel mit mir. Dazu stellt sie einen Spiegel vor meinem linken Arm und verdeckt ihn damit. Dann sehe ich meine rechte Hand, die im Spiegelbild gleichzeitig auch meine linke Hand darstellen soll. Aber damit läuft sie bei mir ins Leere, mein Gehirn ist Gottseidank noch so intakt, dass es sich von solchen sinnlosen Spiegelfechtereien nicht übertölpeln lässt.
Ich wundere mich nur manchmal morgens, zwischen Tag und Traum, wenn ich gerade aufgewacht bin und mein noch verschlafener Blick auf der Bettdecke nach links wandert. Dort sehe ich meine sonst verkrümmte, aber jetzt vollkommen entspannte und ausgestreckte Hand, an der alle fünf Finger wunderbar gerade nebeneinanderliegen. Dann meine ich, einen kurzen Sprung in die Spanne zwischen Traum und Sein einer früheren Zeit zu erleben. Dieser Zeitkorridor bleibt nur für den Bruchteil einer Sekunde offen. Wenn ich die Augen wieder schließe und sie noch einmal öffne, und es gelingt mir mit großer Anstrengung, meinen Blick nach links zu wenden, dann sehe ich dort nichts, was zu mir gehört. Warum ich dann weine, kann ich mir auch nicht erklären.

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