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Der Totalverweigerer - der Feind im eigenen Land

Von Harvey11 Samstag 20.09.2025, 09:35

Wer verweigert hier den Dienst an der Werkbank?
Neue Zeiten verleihen den Dingen und Kräfteverhältnisse neue Bedeutungen. Nachdem wir die Figur des faulen Arbeitslosen einst als Drückeberger, Sozialschmarotzer und Unterschichtler kannten, wird der Klassenkampf von oben heute mit einer anderen Wortwaffe geführt. Der Feind heißt nun: Totalverweigerer. Gegen ihn ziehen die Merzens, Spahns uns Linnemanns Woche für Woche ins Feld. Wer sich dem Dienst am Arbeitsmarkt entzieht, soll am beste gar keine Sozialleistungen mehr erhalten, finden nicht nur Rechte in AfD und Union, sondern auch Liberale und Sozialdemokraten. Denn wer nicht arbeitet soll, auch nicht essen.
So weit, so bekannt: Seit Mitte der 1970er Jahre ist die Figur des faulen Arbeitslosen Dauergast auf der medialen Bühne, wenn Tragödien über den Sozialstaat aufgeführt werden. Interessant und aufschlussreich über die Zeit, in der wir leben, ist aber der Umstand, dass diese Figur aktuell als Totalverweigerer wiederkehrt.
Eigentlich stammt der Begriff des Verweigerers aus einer anderen Zeit und aus einem ganz andere Bereich. Als Totalverweigerer wurden insbesondere in den 1980er Jahren jene Wehrpflichtige bezeichnet, die sich dem Wehrdienst komplett entziehen wollten, also auch nicht bereit waren, stattdessen Zivildienst zu absolvieren. Totalverweigerer zu sein, war damals einerseits eine selbstbewusste Selbstbezeichnung radikaler Kriegsdienstverweigerer gegen den „staatlichen Zwangsdienst“, andererseits eine abwertende Zuschreibung durch diejenigen, die am liebsten alle Söhne dieses Landes an den Waffen sehen wollten.
Die Journalistin Lea Fauth hat in einem lesenswerten Text bei Übermedien vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass es der damalige Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD war, der im Jahr 2023 als Erster an prominenter Stelle den Begriff Totalverweigerer auf Erwerbslose bezog. Der neue Ausdruck setzte sich dann schnell durch und klingt inzwischen wie eine offizielle und quasi neutrale Bezeichnung, wenn Experten öffentlich genaue Zahlen angeblicher Totalverweigerer zu Protokoll geben und einschätzen, dass die Zahl der Totalverweigerer wahlweise überschätzt oder unterschätzt werde und höher oder niedriger liege als bislang gedacht.
Der Totalverweigerer erfüllt damit dieselbe Funktion wie die vor ihm gebräuchlichen Begriffe zur Stigmatisierung von Erwerbslosen: Er moralisiert das Problem der Arbeitslosigkeit. Es drückt aus, dass Totalverweigerer sich ihrer Mitwirkungspflichten entzögen. Die Schuld dafür liege bei den Arbeitslosen selbst. Sie erscheint nicht länger als soziales Problem, sondern als individuelles, resultierend als persönlichem Fehlverhalten.
Die Verknüpfung der Abwertung von Arbeitslosen mit einem Begriff aus dem Wortfeld des Militärs kommt nicht von ungefähr. Die Figur des Totalverweigerers ist Ausdruck einer Militarisierung des Sozialen ebenso wie einer Sozialisierung des Militärischen. Sozialpolitische Fragen werden militärischen Logiken unterworfen und umgekehrt das Militärische in sozialpolitischen Kategorien gedeutet, als Dienst an der Nation. Die Pflicht, notfalls für das Land zu sterben, spiegelt sich in der Pflicht, sich für den Standort Deutschland richtig reinzuhängen. Es geht um Leistungsfähigkeit – militärische wie ökonomische.
Zwar sind die Kosten, die im Bereich des Bürgergelds eingespart sollen, geschweige denn können, nur Peanuts im Vergleich zu jenen, die für Aufrüstung ausgegeben werden. Dennoch: Der Sozialstaat soll verschlankt werden, ideologisch gestützt durch die Markierung innerer Feinde.
Der Totalverweigerer ist der Sündenbock, eine Legitimationsfigur für den bereits angekündigten und drohenden Sozialabbau – ein Saboteur, der Diszipliniert werden muss.
Der Freitag, 18.9.2025

Da warten noch tausende weitere Saboteure an der Arbeitsfront in der Autoindustrie, die dank dem Vormarsch der Chinesen hier bald zum Einsatz kommen könnten wie die zuletzt 50.000 neuen Totalverweigerer.
Übrigens: Natürlich wissen alle Beteiligten, dass die Zahl der Totalverweigerer verschwindend gering ist. Selbst die Größenordnung vom 23.000, die immer wieder genannt wird, umfasst alle Sanktionen wegen Ablehnung von Arbeitsangeboten im Jahr 2024. Die Zahl der vorübergehenden Komplettstreichungen des Bürgergeldes, die unter bestimmten Bedingungen jetzt möglich sind, lag nach neuen Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zwischen April 2024 und März 2025 im – kein Schreibfehler! – im „niedrigen zweistelligen Bereich“. (Stephan Hebel)
Falls Friedrich Merz doch etwas von Wirtschaft versteht kann er doch selbst nicht glauben, dass der Sozialstaat nur durch Einschnitte in ihn zu erhalten sei.
Dennoch wählt die Mitte eine Politik, die es für ihre zentrale Aufgabe hält, am oberen Ende zu streicheln und nach unten zu treten. Der Abbau-Trupp darf weiter arbeiten.

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