Aus dem Essay "Freundschaft" von R. W. Emerson
Von Feierabend-Mitglied Samstag 11.01.2025, 10:43
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Wir haben viel mehr Güte in uns, als jemals zum Ausdruck kommt. Trotz all der Selbstsucht, die die Welt wie Ostwinde durchkaltet, ist die ganze Menschenfamilie in ein Element der Liebe wie in einen feinen Äther eingetaucht. Wie viele Menschen treffen wir in Häusern, mit denen wir kaum sprechen, die wir aber doch schätzen und die uns schätzen! Wie viele sehen wir auf der Straße oder sitzen neben ihnen und erfreuen uns innig, wenn auch ganz im Stillen des Zusammenseins mit ihnen. Lies die Sprache dieser wandernden Augenstrahlen. Das Herz kennt sie. Die Auswirkung der Befriedigung dieser menschlichen Zuneigung ist eine gewisse herzliche Heiterkeit. In der Poesie und in der alltäglichen Sprache werden die Emotionen des Wohlwollens und Behagens, die gegenüber andern empfunden werden, mit den materiellen Wirkungen des Feuers verglichen; so rasch, oder rascher, aktiver, aufheiternder sind diese feinen inneren Erleuchtungen. Von höchster Stufe leidenschaftlicher Liebe bis zur niedrigsten Stufe des guten Willens machen sie die Süße des Lebens aus.
Unsere intellektuellen und aktiven Kräfte wachsen mit unseren Affektionen an. Der Gelehrte setzt sich nieder, um zu schreiben, und all die Jahre der Meditation geben ihm nicht einen guten Gedanken oder einen glücklichen Ausdruck; aber es ist notwendig, einem Freunde einen Brief zu schreiben, und ohne weiteres finden sich von allen Seiten ganze Reihen edler Gedanken in auserwählten Worten ein.
Beachte das Herzklopfen, welches das Ankommen eines Fremden in jedem Hause bewirkt, wo Tugend und Selbstachtung wohnen. Es wird ein empfohlener Fremder erwartet und angekündigt, und ein Unbehagen zwischen Vergnügen und Unruhe bemächtigt sich aller Herzen des Hauses. Seine Ankunft versetzt die guten Herzen, die ihn willkommen heißen wollen, fast in Furcht. Das Haus wird geputzt, alle Gegenstände fliegen an ihren Platz, der alte Rock wird gegen einen neuen ausgetauscht, und sie müssen, wenn sie es können, ein Abendessen zusammenstellen.
Von einem Fremden, der uns empfohlen wird, berichten uns andere nur immer das Gute, und so hören wir nur das Gute und Neue. Er steht uns stellvertretend für die Menschheit. Er ist das, was wir wünschen. Wenn wir ihn uns so vorgestellt und ihn in eine Position gebracht haben, fragen wir, wie wir einem solchen Fremden im Gespräch gegenüber stehen sollten, und wir fühlen uns aus Scheu unbehaglich. Diese nämliche Idee erhöht das Gespräch mit ihm. Wir reden besser als wir es gewohnt sind. Wir haben die flinkste Phantasie, ein reiches Erinnerungsvermögen, und unser Stummteufel hat sich für diesen Zeitraum verabschiedet. Stundenlang können wir eine Reihe ernsthafter, geziemender, reichhaltiger Gespräche führen, die der ältesten, geheimsten Erfahrung entzogen sind, so dass diejenigen, die dabei sitzen, unsere eigene Verwandtschaft und Bekannte, eine lebhafte Überraschung über unsere Kräfte erleben.
Aber sobald der Fremde anhebt seine besonderen Vorlieben, seine Definitionen, seine Fehler in das Gespräch einzubringen, ist alles vorüber. Er hat das Erste, das Beste und das Letzte von uns gehört, was er jemals von uns hören wird.
Jetzt ist er kein Fremder mehr. Gewöhnlichkeit, Ignoranz, Missverständnis sind alte Bekannte. Wenn er von nun an kommt, mag er die Ordnung, die Kleider und die Mahlzeit vorfinden, aber das Klopfen der Herzen und die Mitteilungen der Seele nicht mehr.
Ende des Auszugs
Jeder Mensch und jedes Paar kennt es, sobald das Alltägliche, Banale, Gewohnheit im Leben eintritt bleibt die Begeisterung auf der Strecke wie hier Emerson treffend beschrieben hat. Gewohnheit lähmt bzw. erschlafft meinte Hesse in seinem Gedicht „Stufen“: „Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Ich wünsche Euch ein schönes Winterwochenende!
LG Helga