Eine empörte Anne Frank - 2. Teil
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Feierabend-Mitglied
Montag 13.05.2024, 17:05
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…….doch ich kann es nicht lassen, eine hochinteressante Tischdiskussion muss ich dir noch erzählen.
Irgendwie kamen wir auf Pims* weitgehende Bescheidenheit. Die ist eine so feststehende Tatsache, dass selbst von den idiotischsten Leuten nicht daran gezweifelt werden kann. Plötzlich sagte Frau van Daan, die jedes Gespräch auf sich beziehen muss: »Ich bin auch sehr bescheiden, viel bescheidener als mein Mann!«
Hast du je im Leben so was gehört? Dieser Satz zeigt doch schon sehr deutlich ihre Bescheidenheit!
Herr van Daan fand es nötig, das »als mein Mann« näher zu erklären, und sagte ganz ruhig: »Ich will auch nicht bescheiden sein. Ich habe immer festgestellt, dass unbescheidene Leute es viel weiter bringen als bescheidene.« Und dann wandte er sich an mich: »Sei nur nicht bescheiden, Anne, damit kommt man wirklich nicht weiter.« Mutter stimmte dieser Ansicht vollkommen bei.
Aber wie gewöhnlich musste Frau van Daan zu diesem Erziehungsthema ihren Senf dazugeben. Diesmal wandte sie sich jedoch nicht an mich, sondern an mein Elternpaar, und sagte: »Sie haben eine seltsame Lebensanschauung, so etwas zu Anne zu sagen. In meiner Jugend war das ganz anders. Aber ich bin sicher, dass es jetzt auch noch anders ist, außer eben in Ihrer modernen Familie.« Damit war Mutters mehrmals verteidigte moderne Erziehungsmethode gemeint. Frau van Daan war feuerrot vor Aufregung. Jemand, der rot wird, regt sich durch die Erhitzung immer mehr auf und hat das Spiel bald verloren.
Mutter, die nicht rot geworden war, wollte die Geschichte so schnell wie möglich vom Tisch haben und überlegte kurz, bevor sie antwortete: »Frau van Daan, auch ich finde tatsächlich, dass es im Leben viel besser ist, etwas weniger bescheiden zu sein. Mein Mann, Margot und Peter sind außergewöhnlich bescheiden. Ihr Mann, Anne, Sie und ich sind nicht unbescheiden, aber wir lassen uns auch nicht bei jeder Gelegenheit einfach zur Seite schieben!.
Frau van Daan: »Aber Frau Frank, ich verstehe Sie nicht! Ich bin wirklich außergewöhnlich bescheiden. Wie kommen Sie dazu, mich unbescheiden zu nennen?“
Mutter: »Sie sind sicher nicht unbescheiden, aber niemand würde Sie besonders bescheiden finden.«
Frau van Daan: »Ich würde gerne wissen wollen, worin ich unbescheiden bin! Wenn ich hier nicht für mich selbst sorgen würde, müsste ich verhungern, ein anderer täte es bestimmt nicht. Aber deshalb bin ich wirklich genauso bescheiden wie Ihr Mann.«
Mutter konnte bei dieser albernen Selbstverteidigung nur lachen. Das irritierte Frau van Daan, die ihre Ausführungen noch mit einer langen Reihe prächtiger deutsch- niederländischer und niederländisch-deutscher Worte fortsetzte, bis die geborene Rednerin sich so in ihren eigenen Worten verhedderte, dass sie sich schließlich vom Stuhl erhob und aus dem Zimmer gehen wollte. Ihr Blick fiel auf mich. Das hättest du sehen müssen! Unglücklicherweise hatte ich in dem Moment, als sie uns den Rücken zeigte, mitleidig und ironisch mit dem Kopf geschüttelt, nicht mit Absicht, sondern ganz unwillkürlich, so intensiv hatte ich den Wortschwall verfolgt. Frau van Daan kehrte um und fing an zu keifen, laut, deutsch, gemein und unhöflich, genau wie ein dickes, rotes Fischweib. Es war ein Vergnügen, sie anzuschauen. Wenn ich zeichnen könnte, hätte ich sie am liebsten in dieser Haltung gezeichnet, so komisch war dieses kleine, verrückte, dumme Weib!
Aber eines weiß ich jetzt: Man lernt die Menschen erst gut kennen, wenn man einmal richtigen Streit mit ihnen gehabt hat. Erst dann kann man ihren Charakter beurteilen!
Deine Anne
Weise Erkenntnis von Anne, die mich immer wieder staunen läßt.
*Pim = Annes Vater