Friedrich Nietzsche an Mutter und Schwester
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Feierabend-Mitglied
Dienstag 19.12.2023, 08:58
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Bonn, vor Weihnachten 1864
Meine liebe Mama und liebe Lisbeth.
Mein Wunsch ist, daß Ihr das kleine Paketchen erst am Weihnachtsabend aufschnürt, damit Ihr doch eine kleine Überraschung habt, vielleicht auch nur eine Enttäuschung. Meine Bitte ist: nehmt fürlich, ich gebe Euch von dem Besten, was ich vermag, aber das ist nicht viel. Ihr werdet meine Mühe und meinen Fleiß daran erkennen; immer dachte ich dabei an Euch, und wünschte den Moment bei Euch zu sein, wo Ihr Euch vielleicht darüber freut.
Was sollte ich Euch auch geben, wenn nicht etwas Eigenes, etwas, worin Ihr mich im Bilde wieder seht. Darum habe ich auch noch den Schattenriß meines jetzigen Äußern voran kleben lassen, damit Ihr meine Gabe gern in die Hand nehmt und vielleicht auch oft.
Ihr merkt es schon, daß ich mit einer gewissen Eitelkeit von meinem Werkchen spreche und es hat doch seinen ganzen Zweck verfehlt, wenn es Euch nicht gefallen sollte. Wenn Ihr nur einen Christbaum mit Lichtern habt! Denn es muß sich hübsch ausnehmen im Lichterglanz.
Ich werde an dem Christabende natürlich lebhaft an Euch denken und Ihr jedenfalls auch an mich. Es ist zwar recht gemütlich in meiner Wohnung, und ich will auch jenen Abend sehr angenehm verleben. Auch wir werden uns auf der Kneipe einen Lichterbaum anzünden, auch wir werden uns gegenseitig kleine Geschenke machen. Aber freilich, das ist nur eine matte Nachahmung einer heimatlichen Gewöhnung, an der eben die Hauptsache, die Familie, der Kreis der Verwandten fehlt….
Wißt Ihr noch, wie gemütlich wir zusammen das vorige Weihnachten in Gorenzen verlebt haben! Sagte ich nicht damals, daß wir über ein Jahr wahrscheinlich nicht beisammen sein würden? Das ist nun eingetroffen. Es war schön in Gorenzen: das Haus und das Dorf im Schneefall, die Abendkirchen, die Melodienfülle in meinem Kopf, der Onkel Oskar, das Bisamfell, die Hochzeit und ich im Schlafrock, die Kälte und vieles Lustige und Ernste: Alles zusammen gibt eine angenehme Stimmung. Wenn ich meine „Sylvesternacht“ spiele, höre ich diese Stimmung aus den Tönen heraus.
Nun lebt für heute recht wohl, genießt das schöne Fest und denkt meiner immer und besonders am Festabende gern und oft!“
Adieu!
Euer Friedrich Wilhelm Nietzsche
Im Dezember 1864