Rainer M. Rilke an seine Frau Clara geb. Westhoff
Von Feierabend-Mitglied Freitag 29.12.2023, 10:11
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Meine liebe Frau Rilke,
eine gute Ehe ist die, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt. Das habe ich gesagt und so habe ich gedacht. Dennoch wusste ich, es war nicht glücklich, dass du an mich geraten bist. Es tut mir leid, Clara, dass ich dir weder als Künstler noch als Frau wirklich wohl zu sein vermochte. Das Beste, was ich für dich tun konnte, wäre gewesen, mich endgültig aus deinem Leben zurückzuziehen, damit du da weitermachen kannst, wo du aufgehört hast, als wir uns begegnet sind. Ich bete zu meinem Gott, es möge dafür nicht zu spät sein. Du sollst wieder ganz in deiner Arbeit aufgehen, sollst überströmen in den Formen. Dein Leben muss sich dort abspielen: im Stein, im Holz, das du formst. Ich glaube fest, von deiner Kunst ist noch Großes zu erwarten. Und ich bedaure, dass meine Augen es nicht mehr schauen werden.
Du hast geschafft, in dir zu leben, und alles andere gehen zu lassen. Ich war dafür zu schwach. Trotzdem habe ich meine Möglichkeiten so gut genutzt, wie es mir nur möglich war.
Dass du die Trennung wolltest, verstehe ich und wollte dir nie Steine in den Weg legen, denn du musstest durch meinen Namen gewissermaßen mit einem Etikett herumlaufen, dass für dich nicht richtig gut war. Ich habe dich vollständig absorbiert, du kamst zu nichts anderem, dabei hättest du weiter du sein müssen.
Sei jetzt ganz du, Clara Westhoff-Rilke. Für immer!
Ich danke dir, dass du meine Frau gewesen bist.
In ewiger Liebe,
Rainer