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Storm an Bertha von Buchenau

Von Feierabend-Mitglied Dienstag 31.12.2024, 14:36

Auszug

Das Weihnachtsfest 1836 verlebte Storm nicht im Kreis seiner Familie, sondern bei Verwandten in Altona. Dort wohnte er bei Jonas Heinrich Scherff, einem Kaufmann, der mit einer Cousine seiner Mutter verheiratet war. Bei diesem Besuch begegnete der 19-jährige Primaner einem kleinen Mädchen, der zehnjährigen Bertha von Buchan, die mit ihrer Pflegemutter Therese Rowohl in Hamburg wohnte und ebenfalls zum Weihnachtsfest eingeladen war. Diese Begegnung muss auf Storm einen großen Eindruck gemacht haben, denn er begann noch am Weihnachtsmorgen damit, Gedichte in eine damals von ihm verwendete Sammelhandschrift („Meine Gedichte“) einzutragen, die durch seine Begegnung mit Bertha angeregt waren.

5 Jahre später, am 31. Jan. 1841, schrieb er an Berta folgenden Brief:
Den Neujahrsabend beging ich einfacher, des Jahres letzte Stunde hörte ich im Bette schlagen, doch überhörte ich in ihr nicht die erste Mahnung an Vergangenheit und Zukunft, und vergaß nicht, was mir das alte Jahr gebracht hatte. Wäre ich zu Hause gewesen, so hätte ich Johann Heinrich Voß’s „Des Jahres letzte Stunde ertönt mit ernstem Schlag“ meinem Vater und den andern unsrer Familie vorsingen müssen, wie ich’s immer wenn ich zu Hause gewesen getan habe. Du kennst doch das alte Lied! Es ist so schön, so fromm und stimmt hinreißend alle Herzen in Andacht. Mit ungeheurer lyrischer Gewalt zwingt uns dieses Lied die Gedanken an Tod und Vergänglichkeit auf.
Sieh nur, mein gutes Herz, es liegt in diesem Vergänglichkeitsgedanken, der wohl jeden in der letzten Jahresstunde erfasst, etwas Ungeheures, wovor unsre Seele erschrickt. Denke Dir nur, wie nach wenigen Jahren das ganze lebende Geschlecht von der Erde getilgt sein wird, wie dann alle, die jetzt so eifrig sich regen und mühen, dann so stille schlafen werden mit allem was sie liebten und litten, und über unsrer Ruhestätte lebt ein neues Geschlecht und strebt und leidet und liebt und stirbt. Und wieder neue Menschen füllen die Erde, doch siehst Du, die alte Liebe geht von Geschlecht zu Geschlecht, und ist das Band zwischen Lebenden und Toten. Aber wir streben vergeblich gegen die Macht der Vergessenheit, sie liegt schon tief über Jahrtausende. Nur so lang nach meinem Tode möchte ich leben, als die, die ich geliebt, die mich geliebt. Dann lass mich vergessen sein mit den Millionen der Erschaffenen, denen wie mir Freude und Leid das Herz bewegt hat, und die verschollen sind bis auf den letzten Klang ihres Namens. Nur einzelne Namen, durch ihre Größe berechtigt und dauerhafter als die andern, ragen aus dem unendlichen Schutte hervor wie die Türme einer versunkenen Stadt.

Das waren ungefähr meine Gedanken in der Neujahrsnacht. Sie sind ernst, und ich zweifle nicht, dass Du Deine Augen leichter geschlossen hast als ich. Übrigens sehe ich schon, dass ich, wenn ich beim Schreiben bleibe, von diesem Thema nicht loskommen werde, daher sage ich Dir für heute „Gute Nacht!“


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