Der Tuch
Von
Schachspieler
Freitag 03.12.2021, 21:44
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Der Tuch
Da saß er nun vor uns, selbst unsere Flegel hörten mucksmäuschenstill zu, die Mädchen waren von Anfang an von ihm beeindruckt, unsere Lehrerin auch. Wir waren die 10. Klasse der Waldorfschule in Bremen. Rolf Becker, 30jähriger Regisseur am Musiktheater in Bremen, häufig gewinnend lächelnder Kettenraucher, erzählte uns, was er mit uns vorhatte. Er wollte uns alle als Komparsen für die Opernaufführung "Orpheus und Eurydike" von Gluck. Da wir die Bewegungskunst im Eurythmieunterricht gelernt hätten, wären wir für die geplanten Aufführungen die Idealbesetzung. Die Hälfte von uns sollte mit schwarzer Bekleidung Orpheus den Eintritt in den Hades verwehren, die andere Hälfte, weiß gekleidet, sollten Eurydike herausführen. Alle sollten große Spiegel, die nur wenig Sicht nach vorne zuließen, tragen und sich trotzdem traumwandlerisch sicher nach allen Seiten bewegen können. Waldorfschülern traute Rolf Becker das zu und wie er das vortrug, wir uns dann auch. Das Problem waren dann später aber die langen Gewänder. Zum Auftritt auf die Bühne musste eine Stufe bewältigt werden. Ein Fuß wurde langsam angehoben, nach vorne geschoben und der zweite Fuß nachgeholt. Hatte sich der erste Fuß aber auf den Stoff gestellt, spannte sich das Gewand und der zweite Fuß schaffte es nicht auf die Bühne. Da half die Eurythmieausbildung dann auch nicht so richtig weiter und von einer von Anmut getragener Bewegung konnte nicht mehr gesprochen werden.
Schlimm wurde es aber nur während einer Aufführung, als die tote Eurydike, gespielt von der Operndiva Montserrat Caballé, auf der Bühne lag und von uns Komparsen, verdeckt von einem großen Tuch, von der Bühne geschafft werden sollte. Es fehlte eine wichtige Requisite. Wir mussten improvisieren, breiteten unsere Gewänder aus und wollten so die Situation retten. Die spanische Sopranistin wollte aber keine Improvisation, mehrfach fragte sie leise: "Wo ist der Tuch?", bis sie begriff und mit unserer Hilfe die Bühne verließ.