Neu hier? Lies hier über unser Motto gemeinsam statt einsam.
Mitglied werden einloggen




Passwort vergessen?

2 3

Nachkriegswinter 1946

Von Sylvesterscherz 10.12.2023, 09:20


Sie sind kalt und miefig – diese entsetzlich langen Tage in Berlin!

In der Küchenschublade liegt ein ordentlicher Kerzenvorrat, denn es ist alle Nase lang Stromsperre.
Kerzen muss man hamstern – das ist lebensnotwendig.
Die Tanten zanken sich: „Meine Kerze – deine Kerze“ – es ist zum Untersbettkrabbeln!
Die Tanten zanken sich: „Mein Kochtopf – dein Kochtopf“, „meine Seife – deine Seife“, das Lamento nimmt und nimmt kein Ende!
Wenn es der Vatermutter zu viel wird, kreischt sie dazwischen – dann ist eine Stunde Ruhe.

Es ist kribbelig und schrill in dieser Wohnung, in die die Mutter und die Kinder nicht hineingehören.
Auch das wird ein paar Mal am Tag unmissverständlich klar gemacht.
Sie sind Eindringlinge, unerwünscht, zwangsgeduldet.

Der Vater?
Der Vater ist noch immer in Gefangenschaft.
Der Arme – der in jedem Feldpostbrief von Mutter und Schwestern unterrichtet wird, was sich seine Frau und die Kinder wieder mal geleistet haben!
Das muss man doch – er muss doch wissen, was los ist!

Jeden Mittag – wenn der Sohn noch in der Schule ist - greift die Mutter nach der Milchkanne und nimmt das Kind an die Hand.
Von der Kirchengemeinde gibt es „Quäkerspeise“ für die Kinder – eine Kanne voll für die Beiden und einen „Schwupps“ obendrauf für die Mutter.
So ist die Essensfrage geklärt, und sie braucht sich nirgendwo kniefällig zu bedanken.

Irgendwann gibt es wieder einen Gemeinde-Kindergarten.
Die Plätze sind heiß begehrt und blitzschnell belegt.
Die Mutter hatte Glück! Und erst das Kind!
Jetzt hört es wenigstens ein paar Stunden nur Kindergeschrei – und wenn es nach Hause kommt, ist der große Bruder da!

Er kann genauso wenig ausrichten wie die Mutter, aber er tröstet die kleine Schwester, liest ihr Geschichten vor und bringt ihr alle unanständigen Lieder bei, die er kennt und heimlich singt!
Das Kind weiß nicht, was das ist: „unanständig“!
Es sieht nur die pikierten Tantengesichter und die gerunzelte Stirn der Mutter.
Vielleicht lernt es darum so fix!
Immer, wenn es jetzt Aufregung und Ärger gibt, rennt das Kind auf die Toilette, rammelt die Tür zu und singt.
Ganz leise nur – aber doch irgendwie verständlich!
Die Tanten versteinern, die Mutter verzweifelt, und der Bruder grinst über beide Ohren.
Gott sei Dank ist die Vatermutter schwerhörig!

Vier Zimmer hat die Wohnung, ein Bad, eine Küche und noch eine „Mädchenkammer“, die voller Gerümpel steht.
In der ersten Etage eines gutsituierten Hauses in einer respektablen Wohngegend!
Doch, auf sowas wird geachtet.
Das Eckhaus in dieser Straße – gleich nebenan - ist weggebombt worden – dieses Haus hat keinen Kratzer!

Nur – das man jetzt noch eine „Zwangseinquartierung“ zugewiesen bekommen hat, ist überaus ärgerlich!
Die Tanten sind dementsprechend unfreundlich zu dem ältlichen, grauhaarigen Fräulein, das ganz verschüchtert über den Flur huscht.

Dem Kind wird angeordnet, „Guten Tag“ zu sagen und sonst nix!
Keine Vertraulichkeiten mit „solchen“ Menschen, die sich einfach in fremden Wohnungen breitmachen.
Ihretwegen muss die Vatermutter mit der jüngeren Tante zusammen in einem Zimmer hausen – die ältere hat das strikt abgelehnt.
Die Küche muss dieser Eindringling auch benutzen dürfen – nicht mal im Bad ist man mehr allein!
Wie gut hat es doch der Bruder in der Gefangenschaft – dass er das nicht miterleben muss!
Hoffentlich kommt er bald nach Hause, damit „die da“ wieder hinausbefördert werden kann.
Das ist aber nun wirklich „ein Schuss in den Ofen“ – der Gefangene kommt heim – das Fräulein bleibt!

Du möchtest die Antworten lesen und mitdiskutieren? Tritt erst der Gruppe bei. Gruppe beitreten

Mitglieder > Mitgliedergruppen > Kind ums Kriegsende > Forum > Nachkriegswinter 1946