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Grüner See

Von Feierabend-Mitglied Samstag 07.12.2024, 15:11

Mein Spielplatz war die Gasse vor dem Haus. Hier saß ich am Rinnstein und bastelte an jedem Tag an einem neuen Bild. Ich war ein Bildermacher. Dazu sammelte ich alles, was farbig war und glänzte. Es schien ein guter Tag zu werden für mich und meine Bilder. Letzte Nacht war ein heftiges Gewitter niedergegangen und hatte viel neues Schwemmgut im Rinnstein abgelagert. Das war meine Fundgrube, darin fand ich meine bunten Mosaiksteine. Dass es zu regnen begann, störte mich nicht, ich mochte Regentropfen. Am liebsten hätte ich sie eingefangen und als Glitzerperlen in mein Bild eingebaut. Leider zerplatzen sie am Boden, wurden zu Wasser und beendeten ihr Spiel im Abfluss.
Bald blitzte wieder die Sonne durch die Wolken und ließ meine Bausteine glänzen. Ich sortierte Kronkorken, grünes Glas von zerbrochenen Flaschen, rotbraune Splitter von Ziegelsteinen und weißblaue Scherben mit Zwiebelmuster. Schade, das war gewiss einmal ein vornehmes Kaffeehäferl. Aus Sand und matschiger Erde formte ich eine glatte Fläche und drückte alle Teile meiner Sammlung in den Ton. So entstanden meine Mosaik-Bilder.
Plötzlich erschienen in meinem Blickfeld zwei Wanderschuhe und zwei Hosenbeine. Ich fürchtete um mein Kunstwerk und sagte: „Bitte nicht!” Als ich aufblickte, sah ich Herrn Tuttner, meinen Lehrer. Ich mochte ihn sehr gern, und ich spürte, dass er mich auch mochte. Auf die Frage: „Fährst du nicht mit, heute ist doch unser Schulausflug zum Grünen See?”, schüttelte ich nur stumm den Kopf. Wo meine Mutter sei, fragte er. Ich zeigte nach oben. Wir gingen ins Haus und er klopfte an. Mutter öffnete die Tür. Sie nestelt an ihrer Schürze herum, als sie mich mit dem Lehrer sah. Ich glaube, sie schämte sich für die armselige Behausung; und auch, dass wir den kleinen Betrag für den Ausflug nicht aufbringen konnten. Sie sprach leise mit dem Lehrer, doch der ging nicht weiter drauf ein und sagte: „Ach was, das kriegen wir schon …”

Herr Tuttner nahm meine Hand und ging mit mir zum Hauptplatz, wo das Postauto wartete. Da stand ich nun, mit kurzer Lederhose und verwaschenem Leibchen, barfuß. Der Bus fuhr los. Mein weißblonder Haarschopf wurde von den Müttern der Kinder liebevoll zerzaust und meine Schulkameraden konnten sich nicht einigen, wer mir mehr Bonbons schenken durfte. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich im Mittelpunkt - trotzdem war da eine Distanz. Ich war mittendrin und doch am Rand. Sie sprachen über mich, ich war plötzlich der Arme. Dabei fühlte ich mich gar nicht arm. Viel später im Leben würde ich verstehen, warum das so war: Erst ihre Großzügigkeit machte mich arm. Das größte Geschenk an diesem Tag war die Fahrt mit dem Postauto. Der Chauffeur betätigte nur für uns Buben das Posthorn. Wunderbar!

Lehrer Tuttner erklärte während der Fahrt die Umgebung unserer steirischen Heimat und warum unser Ziel, der Grüne See, so beliebt ist. Noch nie zuvor war ich von zu Hause weg gewesen. Jetzt stand ich staunend vor dem See im Talschluss. Die Moospolster unter meinen nackten Fußsohlen fühlten sich wie ein warmer Teppich an. Ich grub meine Zehen in den sandigen Untergrund zwischen dem Moos. Steil aufragende Felswände und dunkle Tannenwälder spiegelten sich im See. Weiße Kalkschichten am Seegrund erzeugten ein besonderes Licht und ließen die Oberfläche des Sees smaragdgrün leuchten. Herr Tuttner erzählte von unterirdischen Quellen und topografischen Besonderheiten in diesem Tal. Die Erwachsenen waren von der Rede des Lehrers sichtlich beeindruckt. Ich nicht, ich war es von dem, was ich sah. Ich machte mir mein eigenes Bild.

Nach einem kurzen Fußmarsch rund um den See fanden wir einen schönen Platz, wo wir unser Lager aufschlugen. Einige Kinder spielten mit Baumrinden und sammelten Tannenzapfen am weichen Waldboden. Ich streunte im Wald herum, wollte Steine sammeln für meine Bilder und machte eine Entdeckung. Im Wurzelballen eines umgefallenen Baumes glitzerte es. Ein Sonnenstrahl war durch das dichte Geäst auf einen Stein getroffen und brachte ihn zum Funkeln. Auf seiner Oberfläche waren Kristalle, sie schauten wie kleine Würfel aus und glänzten wie Gold.

Herr Tuttner hatte meinen überraschten Ausruf gehört, dachte wohl, ich wäre gestürzt und wollte mir zu Hilfe eilen. Als er mich unversehrt, aber voll Erstaunen vor meinem Fund erblickte, klärte er mich auf. „Das ist leider kein Gold, Ferdinand, das ist ein Pyrit. Die Leute nennen es Katzengold. Auf jeden Fall ein schöner Stein. Dein Stein, Ferdinand.”

Die Mütter breiteten Decken aus, Klappsessel gab es auch – Mittagszeit. Weil ich keinen Proviant dabei hatte, wurde zusammengelegt. Am Ende hatte ich mehr zu essen, als die anderen Kinder. Sie gaben mir Käse und Schinken, gekochte Eier und Essiggurken. So stellte ich mir das Schlaraffenland vor: Steine wie Gold und jede Menge zu essen.

Der Lehrer spielte auf der Gitarre ein Lied und alle sangen mit. Irgendwer kam auf die Idee, ins Wasser zu laufen. Am flachen Ufer sei der See gut zum Baden geeignet, sagten sie. Alle Kinder sprangen ins Wasser, die Mütter passten auf, dass nichts passierte. Ich blieb allein am Ufer zurück.
„Komm doch, es ist gar nicht tief”, riefen sie mir zu. Ich ging nicht, auch wenn es noch so verlockend schien. Ich konnte nicht. Nicht, dass ich nicht schwimmen konnte, war mein Problem, sondern dass ich unter meiner kurzen Lederhose keine Unterhose trug. Ich lächelte still in mich hinein. Gut, dass ihr das nicht wisst, es würde mich in euren Augen nur noch ärmer machen.

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