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Das Jahr ohne Heiligabend

Von Feierabend-Mitglied vorgestern, 22:39 – geändert vorgestern, 23:00


Zuerst war es nur ein Flüstern im Netz. Ein Kalenderblatt, das fehlte. Ein Datum, das man nicht mehr fand. Der 24. Dezember war verschwunden – wortlos, spurlos, als hätte er beschlossen, sich selbst zu löschen.

Man lächelte darüber, nannte es ein technisches Versehen. Doch das Lächeln hielt nicht. Denn der Tag kehrte nicht zurück. Der Advent verging, die Straßen glitzerten, die Märkte summten – und hinter all dem Schillern lag eine seltsame Stille. Ein leerer Punkt im Lauf der Zeit.

Am Morgen des 25. sprach niemand darüber. Man schenkte, man aß, man postete Bilder, als wäre nichts geschehen. Nur dass es in den Gesichtern einen Schatten gab – kaum sichtbar, aber spürbar wie ein vergessener Ton in einem Lied.

Lina merkte ihn zuerst.

Sie lebte allein, oben unter dem Dach, in einer kleinen Wohnung, in der Musik unter dünnen Wänden pochte. Ihre Schüler spielten Weihnachtslieder, doch sie selbst brachte keinen Klang mehr hervor. Alles klang seicht, mechanisch, als lägen zwischen den Noten unfassbare Lücken.

Als der 23. Dezember endete und der 25. begann, stand sie am Fenster. Kein Glockenklang, kein Stern. Nur ein stiller Himmel über schweigender Stadt. Die Zeit schien kurz zu atmen und dann stillzustehen.

Getrieben von etwas, das sie nicht benennen konnte, zog Lina ihren Mantel über und ging hinaus. Der Asphalt glänzte wie gefrorenes Wasser, und in der Luft hing eine Kälte, die nicht vom Winter kam.

Am Flussufer sah sie ihn: einen Mann in grauer Wolle, barhäuptig, mit einem Gesicht, das aus Nebel geformt schien.

„Du suchst den fehlenden Tag“, sagte er, noch bevor sie sprechen konnte. Seine Stimme klang wie Sand durch eine Uhr.

„Warum ist er fort?“ fragte sie.

„Weil ihr ihn leer geredet habt“, antwortete er. „Worte ohne Sinn. Lichter ohne Wärme. Ihr habt Heiligabend zu einer Hülle gemacht, und der Tag hat beschlossen, nicht weiter mitzuspielen.“

Lina schwieg. Sie wusste, er hatte recht. Zu lange hatte sie selbst so gelebt – nach Stunden, nicht nach Herzschlägen. Sie dachte an frühere Jahre: an das kleine Kind, das sie gewesen war, wartend am Fenster; an das Flackern der Kerzen, an die zitternde Freude, die so still war, dass man sie kaum aushielt.

„Kann man ihn zurückholen?“ fragte sie.

Der Mann sah sie an – ein Blick, älter als Zeit. „Nur, wenn jemand ihn nicht besitzen, sondern begreifen will. Der 24. ist kein Tag. Er ist die Pause zwischen Lärm und Sein.“

Dann löste er sich auf, wie Atem in Frost.

Lina stand allein. Über dem Fluss hing Nebel, dicht und schweigend. Sie zündete ein Streichholz an; die kleine Flamme spiegelte sich im Wasser, und plötzlich wusste sie, was zu tun war. Sie legte ihr Herz in diese Stille, ganz ohne Bitte, ohne Ziel. Nur die schlichte Bewegung des Erinnerns.

Und da begann es zu schneien – sanft, unaufdringlich, wie ein Einverständnis. Die Zeit nahm wieder Takt an.

Als sie erwachte, war es Heiligabend. Kein Wunder, keine Engel – nur ein Tag, der wieder einen Platz gefunden hatte.

Lina lächelte. Sie machte keinen Lärm darum. Sie stellte einfach eine Kerze ans Fenster, ließ sie brennen, bis das Wachs an der Scheibe hinabträufelte wie Zeit, die sich verneigt.

Manche schworen später, sie hätten in jener Nacht ein leises Glöckchen gehört, aus der Ferne, aus keinem Ort.
Vielleicht war es der Tag, der sich bedankte.

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