Neu hier? Lies hier über unser Motto gemeinsam statt einsam.
Mitglied werden einloggen




Passwort vergessen?

4 5

positive Sozialisierung

Von Grunewaldturm vorgestern, 09:47

Unsere schöne friedliche Zeit in Hanseberg endete am 2. Januar 1945 abrupt. Der Vormarsch der Roten Armee hatte den Gutsherrn Heinrich von Neumann veranlasst, mit seiner Familie nach Brandenburg auf seine dortigen Besitzungen zu fliehen.
Er hatte mit seinen Bediensteten einen Treck von Pferdefuhrwerken zusammengestellt und lud alle die es wollten ein, mit ihm zu fahren. Meine Mutter und einige andere Frauen mit ihren Kindern nahmen dieses Angebot an.

In meinen Erinnerungen ist alles, was an diesem Tag geschah erhalten geblieben. Zum Beispiel, dass ich mich vehement weigerte meine Spielzeuge zurückzulassen. Noch heute sehe ich alles vor meinem geistigen Auge liegen. Die rote Holzfeuerwehr, mit der ausziehbaren Leiter, meine Dominosteine, die Sonnenbrille und den großen braunen Teddybären, den mir die Köchin geschenkt hatte und dessen Verlust mich noch jahrelang traurig werden ließ, wenn ich an ihn dachte.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Oderübergänge noch nutzbar und so kamen wir unbehelligt in dem Dorf Densow in der Uckermark an und wurden in den Klassenräumen der Dorfschule untergebracht. Warum meine Mutter es für angebracht hielt nicht mit Herrn Neumann weiter nach Brandenburg zu fahren hat sie mir nie erzählt. Wegen ihrer Entscheidung dauerte unsere Flucht mehrere Monate, während die in Hanseberg zurückgebliebenen Berliner Kinder und Erwachsenen in wenigen Stunden mit dem Zug in unserer Stadt ankamen.

Es ist natürlich leicht aus heutiger Sicht zu beurteilen wer von denen die richtige Entscheidung traf. Wir drei kamen nach einigen Umwegen und etlichen Angstsituationen schließlich in dem Dorf Grube, dem Geburtsort unseres Lebensretters, dass ca. 7 km von Bad Wilsnack entfernt in Mecklenburg liegt an und überlebten fast unbehelligt. Der Ort war zu diesem Zeitpunkt schon von der Roten Armee besetzt.

Die mit dem Zug gefahrenen mussten die Schlacht um Berlin und allem was in diesem Zusammenhang geschah über sich ergehen lassen.

Die letzten 7 km, von Bad Wilsnack nach Grube mussten wir drei zu Fuß zurücklegen. Dabei sahen wir viele Soldaten in unterschiedlichen Uniformen am Straßenrand liegen, die bei den Kämpfen ihr Leben verloren hatten. Ich weiß heute natürlich nicht mehr, ob ich damals wusste, dass diese Menschen tot waren oder dachte, dass sie nur schliefen. Jedenfalls wurde ich auf unseren Weg nicht von Angst getrieben. Das war bei unserer Mutter wesentlich anders. Ihre Angst steigerte sich fast bis zur Hysterie als wir im Dorf vielen lebenden sowjetischen Soldaten begegneten aber keinen einzigen Dorfbewohner.

Die hatten sich Unterstände unter der Erde gebaut und sich in den umliegenden Wäldern versteckt. Das erfuhren wir von einer alten Frau die im Dorf geblieben war. Wir fanden diese versteckten Bunker und blieben bei den Dorfbewohnern ca. eine Woche im Wald. Dann haben mehrere Leute bei Erkundungsgängen feststellen können, dass sie unbehelligt blieben und so kehrten die Dorfbewohner in ihre Häuser zurück. Meine Mutter hatte in Densow unseren Lebensretter kennengelernt, der sie zu seinen Eltern geschickt hatte, die uns sehr freundlich bei sich aufnahmen.

Die Rote Armee hatte einen jungen Leutnant zum Kommandanten dieses Ortes ernannt der bekannt gab, eine Haushälterin zu suchen. Obwohl meine Mutter nicht die Absicht hatte diese Arbeitsstelle anzunehmen ging sie pro forma mit mir dorthin, damit die alten Leute nicht sagen konnten Sie würde nicht arbeiten wollen. Sie hatte Angst vor dem russischen Mann und deswegen musste auch ich sie auf allen ihren wegen begleiten. Sie hoffte wohl, dass ihr nichts passieren würde wenn ihr kleiner Sohn ständig bei ihr war.
Inzwischen war die Spargelernte angebrochen und sie ging mit zum Spargelstechen. Ich saß dabei auf einem Sandhaufen und langweilte mich. Aber nicht lange. Denn es tauchte ein Rotarmist auf, der eine sehr schmutzige Kampfuniform an und eine Maschinenpistole quer vor der Brust hängen hatte. Er lächelte mich freundlich an und streichelte mir über den Kopf, bevor er sich zu mir auf den Sandhaufen setzte und anfing mit mir zu reden.
Er sprach Russisch, ich sprach Deutsch, aber wir hatten keinerlei Probleme uns zu Verständigen.
Er hatte inzwischen aus seinem Brotbeutel ein nicht mehr ganz sauberes weißes Tuch hervorgeholt aus dem er ein schwarzes Kommissbrot und ein großes Stück fetten Speck hervorholte und mit mir seine Mahlzeit teilte.

Wobei wir nicht nur von meiner Mutter, sondern von fast allen Frauen die arbeiteten ängstlich beobachtet wurden. Im Gegensatz zu mir fanden sie meinen neuen Freund mit seinen mongolischen Gesichtszügen nicht besonders liebenswert.
Für mich jedenfalls war es der erste Mensch mit fremdartigem Aussehen den ich traf und dazu noch einen der mit mir sein Brot teilte. Er war wohl dafür zuständig die Frauen bei ihrer Arbeit zu bewachen und freute sich als ich am nächsten Tag wieder mit ihm auf den Sandhaufen saß. Diese täglichen Begegnungen prägten mich für mein gesamtes Leben. Durch sie bin ich zu einem toleranten Menschen geworden der keinerlei Vorurteile gegenüber unbekannten Leuten hat. Ich bin sogar der Ansicht das fremde Kulturen und Traditionen unserer Gesellschaft nur gut tun können und denke dabei an pluralistische Gesellschaften wie die von Nord und Südamerika, von Kanada und Australien.

Der kleine Mongole hat seinen festen Platz in meinen Erinnerungen und ich werde ihn bis ans Ende meines Lebens dankbar sein …

Du möchtest die Antworten lesen und mitdiskutieren? Tritt erst der Gruppe bei. Gruppe beitreten

Mitglieder > Mitgliedergruppen > Kreativ Schreiben > Forum > positive Sozialisierung