Der Hinterstoisser Sepp
Von Feierabend-Mitglied Mittwoch 22.01.2025, 12:59
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Die Schiffgasse ist eine alte Zunft-Gasse in meiner Stadt. Sie führt vom Hauptplatz zur Schifflände. In meiner Jugendzeit prägten Kleingewerbe und Handwerker das Bild der Gasse. Der Fleischhauer war zugleich Wirt und der Seifensieder war auch Parfümerie. Neben der alten Fassbinderei am Ende der Gasse besohlte der Schuster Peter, auf einem Dreifuß sitzend, die schief getretenen Absätze aller Schiffgassler. Das kleinste Geschäft war die Tabak-Trafik der Frau Pirker. Bei ihr gab es Zigaretten, Totoscheine, die Tagespost, Micky-Maus-Hefte für die Halbwüchsigen und die Wunderwelt für die Kleinen.
In den verwinkelten Häusern wohnten Arbeiter, Kriegsversehrte, junge Witwen und viele Kinder. Die meisten Wohnungen waren feucht und finster, kosteten aber wenig Geld. Unser Spielplatz war die Gasse, die wenigen Autos störten uns nicht, kam ein neues hinzu, wurde es gebührlich bewundert. Ein Schiffgassler konnte sich normalerweise kein Auto leisten, es sei denn, er zog das große Los bei der jährlichen Tombola. So wie der Hinterstoisser Sepp. Der Haupttreffer war in diesem Jahr ein Volkswagen – der stand jetzt bei ihm im Hof. Der Sepp war etwas zurückgeblieben in seinem Denkvermögen. Außer mir hatte er kaum Freunde. Er war nur bis zur 4. Klasse Volksschule gekommen, danach wurde er ausgeschult und war Bauarbeiter geworden. Wenn er aufgeregt war, begann er zu stottern und brachte kaum einen vernünftigen Satz heraus. Trotzdem, oder gerade deswegen mochte ich ihn.
Es war eine Woche nach Sepps grandiosen Gewinn bei der Tombola, als ich ihn im Hof seiner Unterkunft besuchte. Das Haus, in dem er wohnte, hatte eine gewisse Berühmtheit, denn es war einst das Domizil des Heimatdichters Carl Morrè. Dessen Sicht auf die Welt vor hundert Jahren war in eine Gedenktafel gemeißelt: „Is do dö Welt a Narrenhaus …“
Sepp saß unter dem Kastanienbaum und schaute in die Baumkrone. Ich hatte mit einem aufgeregt stotternden Sepp gerechnet, immerhin war er jetzt die zweite Berühmtheit, die in diesem Haus wohnte. Ich begrüßte ihn: „Servus Sepp, wie gehts denn so?“ Er deutete auf die stacheligen Kastanien am Baum und sagte: „Siehst du sie, die kleinen grünen Igel? So einen Schutzmantel könnte ich auch gut gebrauchen, gerade jetzt, wo alle so freundlich zu mir sind.” Sepp ging ein paar Schritte zu seinem Auto und wischte liebevoll ein paar vom Baum gefallene Blätter vom Autodach. Behutsam öffnete er die Wagentür und lächelte wie ein alter, weiser Mann.
„Noch nie hatte ich so viele Freunde, alle wollen mit mir in meinem Auto irgendwohin fahren“, sagte er.
„Ja, und? Freut dich das nicht?“, fragte ich.
Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich nicht Autofahren kann und sie eingeladen, sich mit mir in den Wagen zu setzen und den Geruch des Autos zu genießen. Einfach so. Ohne zu fahren. Da sind alle wieder abgezogen.“
Ich klopfte dem Sepp auf die Schulter und dachte an den Spruch des Dichters auf der Steintafel.