Der letzte Schultag
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Feierabend-Mitglied
vorgestern, 08:51
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Unser Klassenvorstand zog eine Bilanz des Schuljahrs. Danach war Zeugnisübergabe. Es war meine Sternstunde. Ich hatte etwas geschafft ohne es zu wollen: Ich war Vorzugschüler geworden. Der Gedanke, als Streber zu gelten, gefiel mir nicht. Der Lehrer hob meine besondere Leistung hervor: „Im Vorjahr hatte Ferdinand (er legt bei diesen Worten seine Hand auf meine Schulter), vier Nichtgenügend in seinem Zeugnis und jetzt ist er einer der Besten. Als Englischlehrer nenne ich das den perfekten turn around.“
Als er das Zeugnis überreichte, teilte er mir im Vertrauen mit, dass er sich für mich einsetzen würde, sollte ich aufs Gymnasium wechseln wollen. „Du hast das Zeug für mehr …“
„Das wäre schön“, sagte ich und dachte an meine Freundin Andrea. Ich stellte mir vor, wie es wäre, mit ihr in dieselbe Schule zu gehen; sie jeden Tag zu sehen. Dem Lehrer antwortete ich nicht. Ich konnte ihm nicht glauben. Zu gut hatte ich die Worte aus dem Vorjahr in Erinnerung, als er mich vor versammelter Klasse wie Dreck behandelte und mich anschrie:
„Du bist die Schande der Schule. Mach´ nur so weiter, dann führt dein Weg direkt in die Gosse. Am liebsten würde ich dich nie mehr in unserer Schule sehen!“
Niemand wollte damals wissen, was mit mir geschehen war – mit Verlierern spricht man nicht.
Jetzt war aber keine Zeit zum Grübeln. Stolz wie Oskar stand ich vor allen Mitschülern. Meine Freunde freuten sich mit mir, die anderen glotzten neidisch. Ich war so aufgedreht, dass ich vergaß, wie sie mich vor einem Jahr behandelt hatten. Damals war ich wie ein Aussätziger davongeschlichen.
Bereitwillig beantwortete ich ihre Fragen. „Wie ich das geschafft habe?
Na ja, als Sitzenbleiber kennt man den Stoff. Was mir am meisten geholfen hat? Ich habe nur das Schwänzen eingestellt.“
„Das ist alles?“, fragten sie.
„Ja, denn die meisten Nichtgenügend hatte ich wegen versäumter Schularbeiten bekommen. Ich hatte einfach zu viele Fehlstunden.“
„Warst du krank?“
„Nein. Das stand nur auf den Entschuldigungen. Die Unterschrift zu fälschen war kein Problem.”
Dass mein Vater dauernd besoffen war und meine Mutter dermaßen attackierte, dass sie wegen ihres zerschlagenen Gesichtes nicht zu den Sprechtagen gehen konnte, erzählte ich nicht. Auch nicht, dass ich viele Nächte vor Angst nicht einschlafen konnte. Sie würden es ohnehin nicht glauben.
Dieses Jahr war alles besser, der Alte war krank und lag entweder im Spital oder in irgendeiner Heilstätte herum. Vielleicht stirbt er ja, dachte ich. Es wäre eine Erlösung gewesen.
Nach dem Abschluss-Gottesdienst wurden einige Schüler von den Eltern mit vollgepackten Autos abgeholt und fuhren direkt an die Adria. Seit Wochen prahlten sie mit ihren Urlaubszielen wie Grado oder Rimini. Nicht dass mir das nicht gefallen hätte, aber stundenlang auf dem Rücksitz eines VW-Käfers kauern? Nein danke, da war mir mein einfaches Leben lieber. Außerdem brauchte ich jetzt nicht mehr zu schwänzen, um mein Geld beim Parkettverleger zu verdienen.
© Text & Foto by ferdinand