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Der Weihnachtsbote

Von Feierabend-Mitglied Freitag 06.12.2024, 08:32


Ich war kein Schüler, der durch übertriebenes Lernen auffiel – eher glänzte ich durch Abwesenheit. Ich wollte manuell arbeiten. Die familiären Verhältnisse waren nicht gut. Daher wollte ich Geld verdienen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Ich empfand es als Glück, dass bei uns im Haus ein Parkettverleger seine Werkstatt hatte. Meister Wieringer war fallweise mein Arbeitgeber für kleines Geld. Und ich nahm jede Gelegenheit wahr, etwas zu verdienen. Einen Tag vor Weihnachten, ich hatte regulär schulfrei, ergab sich ein lukratives Angebot.
„Ferdi, wie schaut’s aus, hast Zeit für einen Botengang?“, fragte mich Herr Wieringer.
„Eh klar, Meister, was ist zu tun?”
„Zwei Weihnachtspakete ausliefern nach Thörl ins Draht & Kabelwerk Pengg. Du weißt schon dort, wo wir im Sommer die Parkettböden im Chefbüro verlegt haben. Das große Paket ist für den Chef persönlich, das andere für die Sekretärin. Lass dich ja nicht abwimmeln von den Bürodamen. Ja, noch was Wichtiges – sprich Herrn Pengg mit ‘Herr Gewerke‘ an und überbringe meine Grüße!“
„Und, wie komm ich nach Thörl?“
„Mit dem Postauto. Du kriegst das Fahrgeld und deinen Lohn. Nimm den Rucksack und beeile dich, der Gewerke ist nur vormittags da.“
Ich lief mit dem schweren Rucksack zum Bahnhof. Das Postauto fuhr in zehn Minuten, genug Zeit, um mit dem unverhofften Geld eine extra dicke Wurstsemmel und einen Schokoriegel mit Erdbeerfüllung zu kaufen und zu essen. Im Bus war es warm – zu warm – während der Fahrt wurde mir entsetzlich schlecht. Kurz vor Thörl hielt ich es nicht mehr aus – ich musste mich übergeben. Der Chauffeur fluchte, ließ mich aussteigen und fragte, ob er warten soll. „Nein, danke“, sagte ich verschämt und das Postauto fuhr qualmend davon. Ich war schon oft in der Gegend, aber noch nie im Winter und bei Nebel. Es sah alles fremd aus und von Thörl war nichts zu sehen. Das Tal war hier so eng, dass außer dem Bach, der Straße und der stillgelegten Lokalbahn kein Meter Platz war.
Zu Hause hatte es geregnet, hier lag Schnee. Ich hangelte mich die Böschung hinunter zum Bach, um mich zu säubern, denn so wie ich aussah, konnte ich unmöglich dem hochverehrten Herrn Gewerke unter die Augen treten. Ein kalter Wind fuhr in die winterspröden Bäume am Straßenrand und fegte den Schneestaub von den kärglichen Ästen. Ich dachte: Weihnachten ist nur schön, wenn man aus dem Fenster der warmen Stube schaut. Dann mag die weiße Pracht gewiss romantisch sein, aber nicht bei einem Fußmarsch in gefrorenen Schuhen und einem feuchten Walkjanker.
Ich kam gerade noch vor Betriebsschluss ins Direktionsgebäude. Die sonst strenge Sekretärin war äußerst freundlich, als sie den Geschenkkarton an sich nahm und mir die Tür zum Allerheiligsten des Herrn Gewerke öffnete. Ich war verunsichert und stotterte brav meinen Text und übergab das Paket. Herr Pengg war bemüht freundlich, griff in seine Westentasche, drückte mir einen Geldschein in die Hand und entließ mich in Richtung Weihnachten.

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