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Ein Mann aus der Szene

Von Feierabend-Mitglied Dienstag 23.12.2025, 16:38



Dieses Jahr, dachte ich, hat’s mich erwischt: Mir fällt keine Weihnachtsgeschichte für die Feierabend-Community ein. Mir war absolut nicht nach Schreiben zumute. In meinem Kopf kreisten Gedanken über mein Leben, meine Vergangenheit und meine Zukunft.

Dann riss mich das Klingeln meines Smartphones aus der Lethargie. Freunde fragten mich, ob ich eine Idee hätte; ob ich einen Ausweg für einen ihrer Schützlinge, der kein Schützling mehr sein wollte, wüsste. Sein Name ist Theo. Er ist ein Mann mittleren Alters und Alkoholiker, hat einen Entzug hinter sich, aber die nachsorgenden Beratungsstellen ignoriert er.
Man warnt mich: Theo wirke ein wenig überheblich, wenn er von sich selbst sagt, dass er in keine Selbsthilfegruppe gehen könne, weil er das „Geschwafel“, das dort gesprochen wird, nicht vertragen kann. Außerdem seien ihm dort zu viele Leute auf einem Haufen. Er habe eine Art Sozialphobie, fügte er entschuldigend hinzu.
Er sei ein schwieriger Fall, meinten meine Freunde von der Telefonseelsorge. Vielleicht hätte ja ich eine Idee, hofften sie und holten bei mir die Erlaubnis ein, meine Nummer an Theo weiterzugeben. Der hatte interessiert zugehört, als sie ihm vorsichtig erzählten, dass ich ein Mann aus der Szene sei, ein sogenannter „grader Michl“, der ohne wissenschaftlichem Gewäsch über seine Schwäche, nämlich dem Nicht-umgehen-können-mit-Alkohol, spricht und der es irgendwie geschafft hat, aus diesem Dilemma herauszukommen.

Theo hat angerufen. Gestern Abend.
Ich gab mich loyal, gab ihm zu verstehen, dass ich der Letzte sei, der ihm auch nur den geringsten Vorwurf mache. „Ganz im Gegenteil“, sagte ich, „ich sehe in dir einen Helden, denn du hast es geschafft, mich anzurufen. Ich weiß, wie schwer das ist.“

Und heute Vormittag haben wir uns getroffen, bei ihm zu Hause in seiner Klause. Wir haben lange geredet. Über ihn, seinem Problem, sich „Gutmenschen“ anzuvertrauen und natürlich von mir, meiner düsteren Vergangenheit und noch viel wichtiger: meiner Zukunft.
Als ich ihm während des Gesprächs über die Schulter schaute, sah ich an der Wand eine Gitarre hängen. „Spielst du Gitarre, machst du Musik?”, fragte ich Theo. Er antwortete mit verlegenem Lächeln: „Ein bisschen, aber nur als Autodidakt.”
Das brachte mich auf eine Idee und ich erzählte ihm von meinem langgehegten Wunsch,
einen Song, eine Art musikalische Ballade zu schreiben. „Leider spiele ich kein Instrument”, sagte ich und sah ihn hoffnungsvoll an. Theo drehte sich ein wenig verlegen zur Seite, aber ich merkte, dass ich bei ihm etwas bewegt hatte.

„Magst du Reinhard Mey”, fragte er.
„Natürlich, immer schon!” Ich jubelte innerlich. Ich erzählte, dass ich beim Schreiben immer Musik höre, meistens irgendwelche Songs von früher, weil ja meine Erlebnisse als Alkoholiker Jahre zurückliegen. Und von dieser Zeit sollen meine Songtexte erzählen.

Theo war inzwischen begeistert aufgesprungen und zog aus seinem Bücherregal jede Menge CD’s heraus. „Wusstest du, dass Reinhard Mey über 500 Lieder geschrieben hat?”
„Nein, wusste ich nicht. Aber es passt zu meiner Idee. Auch er schrieb Balladen.”

Wir saßen noch lange zusammen und sangen lauthals nicht nur „Über den Wolken” mit. Das Thema Alkohol war obsolet geworden. Die Stimmung war großartig, plötzlich herrschte so etwas wie Aufbruchsstimmung. Theo war infiziert – ich sowieso.
Ich glaube, wir sind Freunde geworden. Jedenfalls treffen wir uns am zweiten Weihnachtsfeiertag zur ersten Übung mit Theos Gitarre und ersten holprigen Texten. Auf der Heimfahrt summte ich eine Stunde lang nur diesen Song und dachte: Jetzt habe ich doch noch eine Geschichte geschrieben.

Ob das eine Weihnachtsgeschichte ist? Egal, morgen ist „Heilig Abend”.
Ich wünsche allen friedliche Feiertage!

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