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Geschichte eines Hüttenwirts

Von Feierabend-Mitglied Mittwoch 25.12.2024, 17:27

Der Altweibersommer ist meine letzte Hoffnung, die verregnete Saison doch noch irgendwie zu retten. Ich wende meinen Blick durch das Küchenfenster. Im Südwesten blitzt die Spitze des Hochkalter hervor. An seiner Ostseite spiegelt sich die Sonne in einem Schneefeld, das ist normalerweise ein gutes Zeichen für den Tag. Doch auf der anderen Seite, über dem Hochstaufen im Norden bauen sich Wolkentürme auf. Westwind kommt auf, das bedeutet: feuchte Luft, Regen und Schnee – auch im Sommer. Das Barometer sinkt, meine Stimmung auch. Wird es wieder ein Tag ohne Gäste, wie so viele schon in diesem Jahr?

Ich beobachte allerlei Krähenvögel, die sich vor dem Haus eingefunden haben und geschickt die Abfallbehälter vor der Hütte nach Beute durchsuchen. Die frechsten und gewandtesten sind die Bergdohlen, deren helle Augen listig umherspähen und sowie sich ein guter Brocken zeigt, schlüpft die Dohle herbei, fasst ihn und ehe sich die Krähen besonnen haben, fliegt sie fort und lässt von Ferne ein gellendes Hohnlachen ertönen. Andere segeln ohne Flügelschlag mit dem Wind und ärgern Asta, meine Schäferhündin, indem sie knapp über sie hinwegfliegen.
Da draußen finden Revierkämpfe statt, ich höre ein kehliges „Grig-Grig”, das an die Artgenossen gerichtet ist und tieferes „Zi-jag-Zi-jag”, was wohl so viel wie „Hau ab” bedeutet und an die ebenfalls aufmerksam gewordenen Kolkraben gerichtet ist. Ich genieße das Schauspiel mit den Dohlen und vergesse die Zeit. Mittlerweile hat es komplett zugezogen.

Ein Hüttenwirt hat viel Zeit zum Nachdenken, besonders an Tagen wie heute. Das weiß auch der Bürgermeister, darum hat er mich gebeten, an der Chronik über den Untersberg mitzuarbeiten. Ich habe zugesagt, obwohl ich so etwas noch nie gemacht habe. Auf dem Küchentisch türmen sich alte Hüttenbücher und historische Alben mit vergilbten Fotografien aus längst vergangener Zeit. Ich habe ungezählte Sagenbücher über den Untersberg gelesen. Die Geschichte über Kaiser Karl, der in ihm sein Grab gefunden und von Zwergen bewacht wird, ist bei weitem nicht die einzige, die diesen Berg so mystisch macht.

Meine Frau ist im Tal, um einzukaufen und Wäsche zu waschen. Ich bleibe in der Schutzhütte. Es wird langsam dämmerig. Den ganzen Tag habe ich nur Nebel gesehen, dick und träge wie die Erbsensuppe von gestern. Ich werde sie wohl selbst essen müssen. „Suppe sättigt nicht“, sage ich zu Asta. „Was meinst du, schlagen wir zusätzlich ein paar Eier in die Pfanne, vielleicht etwas Speck dazu?“ Seit Asta das Wort „Eier” gehört hat, stehe ich unter scharfer Beobachtung, denn Eier sind ihre Lieblingsspeise. Ihrem Blick konnte ich noch nie widerstehen – also auch zwei Eier für sie. Wir sind zufrieden mit der Welt, ich lege noch ein paar Holzscheite ins Feuer und Asta rollt sich in der Nische unter dem Kachelofen zusammen. Ich halte die Stellung, weil auch bei Schlechtwetter jederzeit ein Bergsteiger vor der Tür stehen kann. Wir sind nicht nur Gasthaus, sondern auch Bergrettungsstützpunkt, deshalb müssen wir parat sein. So wie jetzt: Stürmischer Wind setzt ein, der Regen kommt waagrecht daher, peitscht an die Fensterscheiben.

Ich höre ein Knistern und denke an die Wiesel, die in den Hohlräumen zwischen der Küchendecke und dem Matratzenlager überwintern. Aber jetzt im Sommer? Spüren die was? Wieder ein Knistern, aber jetzt kann ich es zuordnen, es kommt es aus dem Telefon. „Nein, nicht schon wieder” fluche ich. Wahrscheinlich ist ein Ast auf die Freileitung gefallen. Wir sind hier auf 1700 Meter Höhe, knapp über der Baumgrenze. Eigentlich wäre das Telegrafenamt für solche Schäden zuständig, aber das kann dauern. Die Monteure haben mir einmal gezeigt, wie man gerissene Telefonkabel wieder spleißen kann. Wenn sich das Wetter bessert, werde ich den Rucksack packen, ins unwegsame Gelände absteigen und die Leitung flicken. Notfalls kann ich mich über CB-Funk verständigen.

Der Sturm pfeift um das Haus. Ein knatterndes Geräusch vor der Hütte beunruhigt mich, ich gehe nachschauen. „Ach du heilige Scheiße“, entfährt es mir, „ich habe vergessen, die Fahnen einzuholen.” Geduckt laufe ich zum Fahnenmast. Die Alpenvereinsfahne hängt nur mehr teilweise an einem Karabiner und ist arg zerrissen. Ich werde sie notdürftig reparieren müssen, für eine neue reicht das Geld nicht.
Asta schüttelt das Wasser aus dem Fell, auch ich bin total durchnässt und fluche über meine Blödheit. Also: Klamotten ausziehen, den Ofen nachheizen, Kleider trocknen und ein Schnapserl trinken, dann geht das schon wieder, denke ich. Hemd und Hose dampfen auf dem Gestänge über dem Kachelofen. Bis morgen ist alles wieder gut.

Ich hole die Chronik mit den alten Sagen über den Untersberg aus der Lade und vertiefe mich von neuem in meine Arbeit. Heute habe ich mir die vielen Höhlen und Dolinen zum Studium vorgenommen. Dazu kommen die Aufzeichnungen der Bergrettung aus den letzten Dekaden. Es sind trockene Berichte über Einsätze und Bergungen, fast jedes Jahr gab es tödliche Abstürze. Nicht in der Statistik enthalten sind jene Menschen, die am Untersberg als vermisst gelten.
Mir fällt das Erlebnis mit dem englischen Botanik-Studenten ein; er sammelte botanische Raritäten in unseren Bergen und hatte bei uns übernachtet. Bei Tagesanbruch war er losgezogen. Meine Warnung vor dem unwegsamen Gelände hatte er in den Wind geschlagen und war mit unbekanntem Ziel verschwunden. Sein Auto war tagelang unbeachtet am Fuße des Berges gestanden, bis seine Eltern uns verständigten. Leider konnte ihn auch eine Hundertschaft von Bergrettern nicht finden. Er wurde nie mehr gesehen.

Der Tag war lang und ich bin müde. Die Monologe mit Asta können nicht verhindern, dass ich mich einsam fühle. Da hilft nur ein kräftiger Schluck aus der Flasche mit dem Vogelbeerschnaps – ein edler Trunk für besondere Tage. Ich entscheide: Heute ist so ein Tag.
Das Arbeiten an der Chronik erfordert meine volle Konzentration. Vor allem das Einarbeiten von uralten, handgeschriebenen Dokumenten ist mühsam. Der Bürgermeister wünscht sich außerdem noch bildhafte Geschichten, die ich aus den Mythen dieses Zauberbergs ableiten soll. Im Banne bäuerlichen Allegorien lese ich von grauslichen Höhlentieren, bis mir kalte Schauer über den Rücken jagen.
Eine weitere Nebelnacht hüllt den Berg ein. Sturmböen rütteln an den Fensterläden des Hauses. Überschüssiges Wasser läuft über die Zisterne, staut sich an gerissenen Latschenzweigen und droht den Keller zu fluten. „Mir bleibt aber auch nichts erspart”, presse ich zwischen den Zähnen hervor.
Asta liegt zu meinen Füssen und knurrt vor sich hin, sie hört oder riecht irgendetwas.
„Okay, ich schau nach”, sage ich. Bei Sturmwetter sichere ich die Eingangstür immer zusätzlich mit zwei Schubern an der Ober- und Unterseite der Tür. „Nun ist aber gut, da ist nix“, sage ich zu Asta und ziehe zunächst den oberen, dann den unteren Riegel auf. Der Wind drückt mir mit aller Wucht die Tür ins Gesicht, gleichzeitig verliere ich meine Taschenlampe. Gebückt kann ich die Tür nicht halten. Asta haut winselnd ab und ich erstarre, sehe mich plötzlich versetzt in eine der gruseligen Geschichten der Chronik. Eine Handbreit vor meinen Augen starrt mich die Bestie an. Aus einem nachtschwarzen Schädel, vom Streulicht der am Boden liegenden Taschenlampe erhellt, funkeln mich zwei grüne Augen gespenstisch an. Ich falle rücklings zurück in den finsteren Gang. Das Ungeheuer blökt: „Määähh …”.

Ich bin derart überrumpelt, dass ich die Tiere in den Vorraum lasse - sechs vor Wasser triefende Wollschafe. In mir kommt leichte Panik auf. Im Hintergrund bellt Asta wie verrückt die Schafe an und vorne habe ich alle Hände voll zu tun, um die Tür gegen den Winddruck zu schließen. Ich schimpfe mit meiner Hündin, bis sie beleidigt ins Gastzimmer abzieht. Ich folge ihr und sage: „Wir sind ein Schutzhaus, heute sind unsere Gäste eben Schafe. Was solls?“

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