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Hallo, ist da jemand?

Von Feierabend-Mitglied Freitag 14.03.2025, 15:11 – geändert Freitag 14.03.2025, 16:37

„Telefonseelsorge. Kann ich helfen?”
„Hallo Ilse, hier ist Ferdinand, der Alki.”
Sofort hatte ich ihre Stimme erkannt. Das Timbre ihrer Stimme ist einzigartig. Noch nie hatte ich so oft telefoniert wie jetzt. Kann man sich in eine Stimme verlieben?
„Hey Ferdinand! Wie war dein Tag?”
„Heute war ein guter Tag.”
Die ersten Worte fielen mir schwer, obwohl ich oft diese Nummer anrief, allerdings nur dann, wenn ich mir genug Mut angetrunken hatte. Wieder einmal hatte ich alle Beteuerungen mit dem Trinken aufzuhören über Bord geworfen und war zerknirscht. Nüchtern konnte ich nicht über meine Probleme reden. Das Wort Seelsorge hatte für mich den Unterton von Kirche und Beichte. Das ist etwas für Schwache, dachte ich, ich bin nicht schwach, ich bin nur betrunken. Bei Ilse war es anders, bei ihr konnte ich die klerikale Hürde überspringen, bei ihr erlaubte ich mir, hilflos zu sein. Ich wusste, der Name Ilse war ein Pseudonym, aber das störte mich nicht. Ich war ohnehin der Meinung, dass Engel keinen Namen brauchen.

Ich erzählte und Ilse hörte zu. Es wurde still am anderen Ende, so still, dass ich glaubte, sie sei nicht mehr da. Ich schloss die Augen und hielt die Luft an, dann fragte ich leise: „Bist du noch da?”
„Du kannst so gut erzählen Ferdinand, ich hör dir gerne zu, bitte sprich weiter.” Genau das ist es, dachte ich, sie hört einfach zu. Selten hatte sie Einwände und wenn doch, dann konnte ich damit etwas anfangen und merkte, sie verstand mich. Sie wusste aus vielen unserer nächtlichen Gespräche, dass ich an einem Punkt angelangt war, an dem ich mich entscheiden musste: Aufhören – und vielleicht doch noch die Kurve kriegen – oder dem Saufdruck nachgeben und den Verstand verlieren. In solchen Momenten keimte in mir der Gedanke, dass die Trinkerjahre genug sein könnten. Was würde sein, wenn ich die abschätzigen Blicke der Leute nicht mehr so ohne weiteres wegstecken könnte? Die Gesellschaft, deren anerkanntes Mitglied ich einmal war, sieht in mir ein willenloses Subjekt, dessen Gehirn vom Alkohol zerfressen ist und das die Kontrolle über sich selbst verloren hat. In lichten Momenten gab ich ihnen Recht und schämte mich für mein Leben.
Ilse sagte, sie könne mich gut verstehen, aufhören sei halt verdammt schwer. Sie wäre nicht böse, wenn ich es nicht schaffen würde, nur traurig. Erst der Nachklang ihrer Worte machte meinem Restverstand klar, dass sie an meine Ehre appellierte. Das war der Punkt! Ich wollte auf keinen Fall zulassen, dass Ilse meinetwegen traurig sein müsste. Es war der Beschützer in mir, der mein Denken beeinflusste. Auch ein Bild des Verrücktseins, dachte ich. Ein hoffnungsloser Säufer, der sich mitunter vor dem eigenen Schatten fürchtet, will jemanden beschützen? Wie verrückt war das denn?
Es knackte im Hörer, Ilse hatte sich geräuspert, um mich in meinem Redefluss zu unterbrechen. „Sag mal, Ferdinand, wie kannst du so flüssig reden und erzählen? Du musst, deiner Schilderung nach, doch ziemlich betrunken sein?”
„Natürlich bin ich betrunken, aber das ist nur äußerlich.”
„Und innerlich, wie geht´s dir innerlich? Ferdinand, was war mit deinem letzten Termin bei der Suchtberatung? Wir waren uns einig, du wolltest es doch auch, dass ich dir helfe den ersten Schritt zu tun. Schon vergessen?”
„Nein, ich habe nichts vergessen. Ich hatte Angst. Wenn ich nüchtern bin, habe ich immer Angst. Es ist schwer zu erklären, aber ich fürchte mich manchmal vor mir selbst.”
Es war mir peinlich, wie sich Ilse abmühte. Und sagte: „Ehrlich, manchmal warte ich nur darauf, dass du mir so richtig die Meinung geigst und die vielen nicht wahrgenommenen Termine um die Ohren haust.”
„Das wäre keine Lösung, Ferdinand. Hör zu: Das Vorsprechen auf diesem Amt ist wichtig, denn nur da bekommst du ein Bett in der Entzugsklinik zugeteilt. Du bist nicht versichert, du kannst nicht einfach zum Hausarzt gehen und dich einweisen lassen, so funktioniert das nicht.”
„Ja, ich weiß, es tut mir leid.”
„Es braucht dir nicht leidtun, Ferdinand, du bist alkoholkrank. Versuche einfach, deine Krankheit anzunehmen. Du hast ein Recht darauf, gesund zu werden.”
Sie hat leicht reden, dachte ich. Meine Probleme löste ich schon immer mit Alkohol, auch wenn der Erfolg nur vorübergehend war. Ich wusste das und trotzdem handelte ich dagegen. Ich kann nicht dicht sein in der Birne. Ilse riss mich aus meinen Gedanken, ich war knapp davor zu resignieren. Ihre Stimme klang fast ein wenig zaghaft aus dem Hörer, als sie sagte: „Ferdinand, wenn du solche Angst hast, auf das Amt zu gehen, würdest du hingehen, wenn ich dich begleite?”
Was sagt sie da? Das gibt’s ja gar nicht! Ich wusste sehr wohl, dass so ein Angebot unüblich war. Auf keinen Fall war es mit den Statuten der Telefonseelsorge vereinbar. Nicht umsonst hatten alle Mitarbeiter Decknamen und auch der Standort war nicht öffentlich. All dies geschah zum Schutz dieser Menschen. Für einen Moment hatte es mir die Sprache verschlagen. Zaghaft fragte ich: „Das würdest du für mich tun?”
„Ja.”
„Warum?”
„Weil ich an dich glaube.”
Ich schluckte: „Ja, dreimal ja, am liebsten sofort. Ich kann jetzt nichts mehr sagen.” Ich weinte.

Ein Mensch, der so unerreichbar weit weg war, der so hoch über meiner traurigen Figur stand, hatte sich bereit erklärt, mit mir den Weg zu gehen. Den wichtigsten meines Lebens. Diese Frau, die ich mehr als Schwester begriff, denn als Frau, brachte mich sehr in Verlegenheit.
Ilse ließ mir Zeit, gab mir ein paar Augenblicke, bis ich mich wieder im Griff hatte und sprudelte dann los: „Ich krieg’ bestimmt einen Termin, ich kenn’ den Leiter des Dienstes persönlich, wir schaffen das. Wir treffen uns morgen um 10:30 Uhr im Nonntal vor der Erhardkirche. Abgemacht? Schreib dir´s auf, es ist wichtig, Ferdinand.”
„Abgemacht, und glaube mir, so eine Verabredung vergesse ich nicht. Nie im Leben! Oh Gott, jetzt hätte ich es fast vergessen – wie erkenne ich dich? Etwa mit einer Rose im Knopfloch?” Ich konnte wieder lachen. Über mich selbst. War ich wieder der alte Charmeur geworden?
„Keine Angst, mein Freund, das klappt schon, wir werden uns erkennen. Auf Anhieb, da wette ich drauf. Ein kleiner Hinweis – wir sind in etwa gleich alt und ich komme mit einem gelben Cabrio, das kannst du nicht übersehen. Servus, bis morgen, ich verlasse mich auf dich.”

Mitternacht war lange vorbei, als ich die Telefonzelle verließ und mich auf den Heimweg machte. Es war ein langer Weg bis zu meiner Unterkunft. Seit Beginn der kalten Jahreszeit war ich stolzer Inhaber eines festen Wohnsitzes. Ich wohnte in einem Schloss am Stadtrand, im Prominentenviertel. Um genau zu sein: ich bewohnte ein winziges Zimmer über der ehemaligen Schlossschänke, deren Bausubstanz nicht weniger baufällig war, als das Schloss selbst. Niemals hätte ich gedacht, dass in dieser feinen Gegend solche Löcher als Wohnraum vermietet würden. Meine Situation ließ keine Kritik zu, im Gegenteil, ich war damals heilfroh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Für einen obdachlosen Trinker wie mich war es das pure Glück. Für die Vermieterin zählte nur die Miete, und die kratzte ich jeden Monat irgendwie zusammen. Sonst wurde nach nichts gefragt Das Beste an dem Haus war die Adresse: Fürstenberg-Promenade. Der desolate Zustand der Liegenschaft wurde mir erst nach und nach bewusst. Solange ich meinen Alkoholspiegel halten konnte, waren mir kaltes Wasser und röchelnde Heizkörper egal. Die Bilder, die am Gang und in meiner spärlich möblierten Kammer hingen, zeigten streitbare deutsche Landser mit Stahlhelm und Ritterkreuz auf der Brust. Ich befand mich allerdings in einem anderen Kampf – ich kämpfte gegen mich selbst und rang mit meinem Dämon, der meine Gier nach Alkohol täglich anfeuerte.

Teil 2: "Kapitulation” folgt.

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