Intermezzo in Mattsee
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Feierabend-Mitglied
Mittwoch 19.03.2025, 10:51 – geändert Mittwoch 19.03.2025, 13:05
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Gibt es ein schöneres Symbol für Erneuerung als das herrliche Zwitschern der Vögel am frühen Morgen in ländlicher Idylle? Dass ich meinen 34. Frühling in Mattsee, diesem beschaulichen Marktflecken im Trumer Seenland erleben durfte, hatte einen besonderen Grund.
Ich gastierte schon wochenlang in der psychosomatischen Abteilung der Salzburger Landes Nervenklinik. Die körperliche Entgiftung war abgeschlossen, aber meine bereits beschlossene Langzeit-Therapie in der Schweiz verzögerte sich wegen meiner mittlerweile diagnostizierten Lungen Tuberkulose. Also wohin? Meine vormalige Unterkunft war lang gekündigt, ich sollte nahtlos zur Langzeitkur in die Nähe von Zürich. Probleme, nichts als Probleme! Ich war zwar trocken, aber beileibe nicht gefestigt. Wieder einmal traten Ilse und Mitarbeiter der Salzburger Telefonseelsorge in Aktion. Sie organisierten mir einen Interims-Job im frühlingshaften Mattsee.
Der örtliche Schuldirektor und Verkehrsvereinsobmann hatte tatkräftig mitgeholfen, dass ich mich wieder wie ein Mensch fühlte. Das Stift Mattsee und Vinzenz Baldemaier, der Pfarrer waren eingeweiht in meine prekäre Situation. Es gab keine Moralpredigten von wegen Alkohol und auch keinen erhobenen Zeigefinger.
Ich fragte mich, wie ich den Leuten am besten meinen Dank erweisen und gleichzeitig mir selber helfen könnte. Die Antwort lag auf der Hand: mit ehrlicher Arbeit, meinen Kenntnissen im Bauhandwerk und meiner Liebe zur Natur im Allgemeinen.
In dieser Zeit wurde unten am See in der Weyer-Bucht eine Freizeit-Anlage errichtet. Außerdem wurde das Pfarrzentrum baulich umgestaltet. Wie überall flossen auch in dieser Gemeinde die Finanzen nicht üppig, also kam mein Einsatz für wenig Geld gerade zur rechten Zeit. Die tiefe Freude, endlich etwas Vernünftiges leisten zu dürfen, gab mir ungeahnten Auftrieb. Bald flogen die Grasbüschel nur so durch die Gegend. Ich planierte Wege, betonierte Fundamente für die Sitzbänke, half bei der Errichtung eines Tennisplatzes. Auch die neue Minigolf-Anlage blieb von meiner Schaffensfreude nicht verschont.
Es gab noch andere Mitarbeiter, meistens junge Bauernsöhne aus der näheren Umgebung, die für die Gemeinde und der Pfarre ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellten. Sie wussten nichts von meinem sozialen Hintergrund, aber sie ahnten etwas, ohne es benennen zu können. Felix war einer dieser Burschen, er meinte, ich arbeite wie ein Losgelassener oder so ähnlich. Er hatte recht, genauso fühlte ich mich.
Am Abend vor dem 1. Mai lud mich Pfarrer Vinzenz zu sich in das Pfarrhaus zum Essen ein, das war schon eine große Ehre. So was gibt’s ja gar nicht, dachte ich. Ein Gestrandeter, ein von vielen nicht ernst genommene Alkoholiker soll mit dem geistlichen Rat des Ortes an einem Tisch speisen? Unglaublich!
Ich betrat das kühle Vorhaus im altehrwürdigen Pfarrhof zu Mattsee und war sofort von einer himmlischen Duftwolke umhüllt. Der unverkennbar kräftige Duft warmen Käses. Fantastisch!
Es schien, als habe Pfarrer Vinzenz meine launige Antwort auf die Frage meiner Leibspeise ernst genommen. Offensichtlich hat er meine Präferenz für Kasnockn an seine Köchin weitergegeben. Dieses Abendessen wurde also mir zuliebe zubereitet. Ich befand mich in einem Pfarrhaus, also war der Himmel ganz nah, zumindest der kulinarische. Pfarrersköchinnen sind sowieso genial. Sie zaubern aus einfachen Rezepten ein Festmahl. Ihr Name war Monika, sie sah genauso aus, wie eine Köchin in meiner Vorstellung auszusehen hat, nämlich üppig in ihrer Rundlichkeit. Monika tischte dem hochwürdigen Herrn Pfarrer und meiner Wenigkeit die besten Kasnockn aller Zeiten auf. „Was um Himmels willen, haben Sie denn da alles hineingezaubert?“, war meine Frage. Bescheiden lächelnd sagte sie: „Es ist eigentlich ein Resteessen, drei verschiedene Käsesorten und die besten meiner Kräuter.“ Was für ein Genuss! Was die Kässpätzle für die Schwaben, sind die Kasnockn für die Tiroler, die Pinzgauer und mich.
Wir saßen noch lange beisammen und redeten nicht nur über das Essen. Es war eines jener Tisch-Gespräche, das ich niemals vergessen werde. Was der Sinn des Lebens sei, fragte ich Pfarrer Vinzenz. Ich erwartete von einem geistlichen Herrn die Antwort: „Gott zu huldigen.” Oder etwas Ähnliches. Pfarrer Vinzenz aber sagte: „Ich denke, der Sinn des Lebens ist das Leben selbst.“
Ich wusste nicht, ob das ein Bibelzitat war oder ob es aus seinem Geistesgut stammte. Jedenfalls war das ein Satz, den ich mir merken wollte.
Der folgende Tag war also der 1. Mai. An diesem Feiertag wurde nicht gearbeitet. Es regnete in Strömen und ich wollte in meinem kurzzeitig angemieteten Gästezimmer nicht den ganzen Tag im stillen Kämmerlein sitzen. Meine Wirtin hatte mir dankenswerterweise die Wäsche gewaschen und so konnte ich frisch geschnäuzt und gekämmt den Feiertag begehen.
Die Dorfmusik spielte flotte Weisen, die Feuerwehrleute und die üblichen Verdächtigen marschierten ins Zentrum. Nach ein paar kurzen Ansprachen wurde der geplante Maitanz wegen des Regens abgesagt und die meisten Leute marschierten zum Frühschoppen in den Bräugasthof. Das war mir zu gefährlich, ich zog das Café vor.
Es war ein Erlebnis, über das ich heute noch schmunzeln kann. Das kam so:
In meiner Trinkerzeit konnte ich ums Verrecken keine Süßspeisen essen, mir wurde schlecht davon. Jetzt aber, nach mittlerweile mehrwöchiger Trockenheit, bekam ich richtig Gusto auf etwas Süßes. Die Spezialität der Café-Konditorei war ein Erdbeerkuchen oder Torte, so genau kannte ich den Unterschied nicht. Ich kam mir richtiggehend tapfer vor, als ich diese cremige Süßigkeit mit dazugehörigem Kaffee bestellte. Gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass ich früher vornehmlich Bier trank und mir, wenn es hochkam, mal ein Gulasch gönnte.
Ich war begeistert, denn ich konnte diesen supersüßen Erdbeerkuchen bei mir behalten – und nicht nur das – auf den Geschmack gekommen, bestellte ich gleich noch mal dasselbe. Es war herrlich! Ich fühlte mich wieder als Mitglied der Gesellschaft. Keiner sah mir an, was ich für eine Schnapsdrossel war. Ein wirklich erhebendes Gefühl, eben ein richtiger Feiertag. Ich konnte gar nicht genug kriegen von der süßen Verführung, aber ich traute mich nicht, eine dritte Portion zu bestellen. So weit ging mein wieder erlangtes Selbstwertgefühl nicht. Also, was tun?
Die Lösung war simpel, ich stand auf und drehte eine Dorfrunde. Dass es regnete, war mir egal, mir ging es glänzend. Einmal um die Stiftskirche und den Friedhof und schon war ich wieder in meiner Konditorei.
Ich setzte mich an einen Tisch weiter hinten im Lokal, da bediente mich eine andere Serviererin. Und aufs Neue: „Bitte eine Erdbeertorte.“ Und gleich noch eine.
Es klingt verrückt, aber es war genau so, ich war der glücklichste Mensch auf dieser Welt. Ein ganz normaler Bürger, vielleicht einer, der gerne Erdbeertorte ist, na und?