KLINIKFRÜHLING (1)
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Feierabend-Mitglied
16.03.2025, 17:39 – geändert Montag 17.03.2025, 06:49
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Es war Samstag, kein Betrieb im Haus. Ilse kam schon am Vormittag und brachte Zigaretten mit. Ich hing an der Infusion und konnte nicht aufstehen. Es wurde langweilig, ich wollte etwas tun. Aber was? Beim Betrachten der Bilder an der Wand kam mir eine Idee: Zeichnen! Ich wollte plötzlich zeichnen. Ich dachte an Buntstifte oder etwas in der Art, doch es war nichts aufzutreiben. Ilse kramte in ihrer Handtasche. Ich schielte auch hinein und entdeckte etwas Schwarzes mit goldig glänzender Hülse. „Was ist denn das?”, fragte ich und zog das Ding heraus.
„Das ist ein Augenbrauenstift.”
„Aha, darf ich?”, sagte ich, und drehte das edle Ding zwischen den Fingern. „Funktioniert ja bestens, fühlt sich an wie ein fetter Kohlestift.” Sogleich begann ich mit meiner ersten Zeichnung seit der Schulzeit. Es waren nur Symbole, die ich malte: Auf dem Ziffernblatt einer Uhr standen die Zeiger fünf vor zwölf – ein Telefonhörer und ein Baum unter der Sonne, die allerdings statt gelb, nur schwarz war. Es war naive Malerei, aber es gefiel uns. „Damit lässt sich aufbauen”, meinte Ilse und schenkte mir ihren Augenbrauenstift.
Montag früh: Mein erster Termin ist in der Neurologie. Ein Gehirn-EEG soll erstellt werden. Sie wollen sehen, ob ich noch richtig ticke. Über die Ergebnisse erfahre ich morgen bei einer Besprechung mehr. Danach folgte der Transfer ins Landes-Krankenhaus zur üblichen Reihenuntersuchung, Vier Leute wurden mit dem hauseigenen Bus hierher gefahren. Der Fahrer wartete, um uns wieder zurückbringen. Alle waren schnell fertig, nur bei mir dauerte es länger. Ich musste in die Röhre, in den Computer-Tomograph. Solange wollte der Fahrer nicht warten. „Kein Problem für mich, ich gehe zu Fuß zurück, das tut mir gut”, sagte ich.
Die Ärztin studierte die Röntgenbilder und fragte mich kopfschüttelnd: „Hatten Sie schon mal was auf der Lunge?”
„Nein.”
„Husten, starkes Schwitzen, Blut spucken?”
„Husten und Blut spucken: Nein. Starkes Schwitzen: Ja”, antwortete ich.
„Könnte krebsig sein, Sie müssen nochmal in die Röhre. Sie haben zwei große Schatten auf der Lunge, wir machen jetzt einen Immunabwehrtest.” Verunsichert frage ich: „Frau Doktor, mit 34 Jahren Krebs?”
Eiskalt kam die Antwort, offensichtlich mochte sie Alkoholiker nicht besonders: „Der Krebs schaut nicht aufs Alter. Es kann auch TBC sein, oder beides, die Kavernen in der Lunge lassen darauf schließen.”
Ach du liebe Scheiße. „Was soll ich jetzt tun?, fragte ich.
„Nichts, nur warten, der TBC-Test dauert 24 Stunden, dann wissen wir mehr. Auf Wiedersehen, ich muss jetzt in die Ambulanz.”
Ich ging aus dem Haus. Auf der Sitzbank unter einem Kastanienbaum saß ich minutenlang und dachte nach. Warum soll ich mit dem Trinken aufzuhören, wenn ich ohnehin am Krebs sterbe. Ich hatte nur noch Krebs im Kopf. Lungenkrebs oder Tuberkulose, was war das denn? Die Wahl zwischen Pest und Cholera? Da sauf ich mich doch lieber zu Tode, da gibt es wenigstens hin und wieder ein Vergnügen. Ich war gerademal vier Tage trocken. Jetzt ergriffen altbekannte Denkmuster die Oberhand. Vis á vis ist doch das Café-Domino, da könnte ich den Druck, der sich in mir aufgebaut hat, doch mit einem Schluck abbauen … Diese mürrische Ärztin hat mir doch diesen spitzen Stempel auf den Oberarm gedrückt, diesen 24 Stunden-Immunabwehr-Test. Ich betrachtete die kleine Wunde und überlegte. Vielleicht warte ich diese Frist ab. Zum Glück fiel mir rechtzeitig Ilse ein, die auf mich gesetzt hatte. Also kein Alkohol!
Gedankenverloren ging ich zurück in die Psychosomatische Klinik. Der Pfleger musste beobachtet haben, wie ich müde am Geländer zum Aufgang der Klinik eine Verschnaufpause einlegte. Er fragte mich mit zynischen Unterton, wo ich so lange war. Ich schaute ihn nur an und sagte nichts.
„Das Schwein ist besoffen”, brüllt er. Ich wollte an ihm vorbei gehen, doch er stoppte mich. Ich sagte nur: „Leck mich am Arsch! Und ging weiter.
„So ein Saukerl”, rief er und griff zum Telefon. Wahrscheinlich sprach er mit dem Oberarzt. Kurz darauf wurde ich ins Ärztezimmer zitiert. Ich war darauf vorbereitet, dass man mich hinauswirft. Doch nichts dergleichen. Mir wurde freundlich ein Stuhl angeboten und der Doktor setzte sich mir gegenüber. Er sah mir in die Augen und bat mich zu erzählen. Das war zu viel für mein ohnehin arg strapaziertes Nervenkostüm, ich konnte nicht mehr an mir halten. Ein Ausbruch aus Verzweiflung und Tränen schüttelte mich durch. Man kann nicht reden, wenn man weint, aber man kann schreien, wenn man wütend ist - und das war ich.
Der Arzt ließ mich gewähren. Als ich nicht mehr weiter konnte, weil mir die Luft ausging, sagte er nur: „Gut so! Sehr gut!” Er schaute mich an und sagte mit einer Überzeugung, der ich glauben konnte: „Ferdinand, das, was du heute geschafft hast, war etwas ganz Großes. Du hast es aus eigener Kraft und ohne Alkohol zurück geschafft, das ist eine große Leistung. Und glaube mir, wer sowas kann, der kann noch viel mehr. Du schaffst alles!”
Danach griff er zum Telefon und ließ sich mit dieser Ärztin im Krankenhaus verbinden. Die Art, wie er ihr jegliche Sensibilität absprach, war hörenswert. Anschließend drosch er den Hörer in die Gabel. Das hat gut getan.
Am Abend dieses Tages kam der Doktor mit der guten Nachricht an mein Bett und sagte: „Den Krebs sind wir los, Ferdinand, die Tbc ist leider geblieben. Tuberkulose ist zwar auch eine schwere Krankheit, aber sie ist dank Streptomycin gut heilbar. Dauert lange, tut aber nicht weh. Damit kannst du gut leben. Gute Nacht. Wir sehen uns morgen in der Neurologie.”