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Klinikfrühling am Lemoneberg

Von Feierabend-Mitglied Montag 17.03.2025, 17:00

Im Park der Klinik war der Frühling angekommen. In mir auch.

Die ersten Tage des Entzugs waren vorbei. Die eigentliche Therapie soll – anschließend an die klinische Entgiftung – in der Alkohol-Reha Effingerhort in der Schweiz mittels einer Jahreskur! erfolgen. Das war der Plan der Sozialmedizin. Dazu hatte ich mich freiwillig bereit erklärt. Ich hatte nichts zu verlieren.
Wild entschlossen arbeitete ich an meiner Abstinenz und hielt meinen inneren Verführer in Schach. Wo genau er in meinem Gehirn hauste, wusste ich nicht. Was ich wusste, war, dass er den Alkohol benötigt, um mich zu manipulieren. Was läuft da ab? Das wollte ich wissen. Daher nahm ich mir vor, heute Nachmittag den Doc in der Neurologie, der mit mir gestern das EEG, diese Gehirnstrommessung gemacht hat, zu fragen.

Nach dem Frühstück hatte ich einen Spaziergang mit Willi geplant. Er ist mein Zimmerkollege und Alkoholiker wie ich. Er war der Profi unter uns, kannte das ganze Areal wie seine Westentasche. Willi hatte in seiner Patienten-Vita sage und schreibe 15 Aufenthalte in dieser Einrichtung aufzuweisen. Er nannte die Landes-Nervenklinik, wegen ihres hügeligen Geländes, ziemlich respektlos „Lemoneberg“, den Hügel, wo die Zitronen blühen. Woher er diesen Ausdruck hatte, wusste er selbst nicht so genau. Ich dagegen konnte mir gut vorstellen, dass in der Fantasie von Patienten mit eingeschränktem Aktionsradius, solche Bilder entstehen könnten.
Unser Spaziergang begann vor der Psychosomatik an einem Mini-Golf-Platz mit genau vier Bahnen. „Wieso sind da nur vier Bahnen?“ fragte ich Willi. Er meinte sarkastisch, dass die Konzentration von uns „Alkis“ für mehr als vier Bahnen sowieso nicht reichen würde.
Willi zeigt auf das Haus gegenüber dem Anstalts-Kiosk. „Das ist die gefürchtete Beobachtungs-Station, im Jargon kurz BEO genannt. Unten die Frauen, oben die Männer und ganz oben der Saal mit den Gitterbetten - Betten mit Fixierriemen und darüber ein Netz gespannt, wie bei einem Abfallcontainer, der beim Transport nichts verlieren soll.”

Der Weg führte vorbei an der Gerichtsmedizin und dem Hörsaal der forensischen Pathologie. Ein Seziertisch stand im Zentrum vor den steil aufragenden Sitzreihen. Ich zog Willi am Ärmel und sagte: „Komm, ich will vom Tod nichts mehr sehen und hören.“
„Wieso hast du plötzlich Angst vor dem Tod, du wolltest doch unlängst sterben? Du hast mir doch die verrückte Geschichte erzählt, als du vom Mönchsberg springen wolltest.”
„Ja Willi, du hast schon Recht. Es war auch nicht das erste Mal, dass ich dieses beschissene Leben wegschmeißen wollte. Aber eben nur dieses verdammte Säuferleben, das konnte ich nicht mehr ertragen. Das elende Aufwachen, das nicht Zurechtfinden in den Fassaden der Wohlstandsbürger. Stumme Vorwürfe, kaum verdeckte Abscheu in zwanghaft freundlichen Sozialgesichtern drängten mich an den Rand. Dieses Leben wollte ich nicht mehr. Ich will teilhaben und habe begriffen: Das geht nur ohne Alkohol.“

Wir kamen an der berüchtigten „5er“ vorbei, so hieß bei Insidern die geschlossene Abteilung. Das Haus wurde saniert. Statt Gitter gibt es jetzt Panzerglas. „Wer muss geschützt werden”, fragte ich mich, die Menschen drinnen oder die Menschen draußen?”
Willi erzählte, dass er einmal für ein paar Monate in diesem Haus war.
Ich sagte, dass mir diese Menschen leid täten.
Willi hatte eine andere Sicht der Dinge und philosophiert vor sich hin: „Viele Patienten, schizophrene und geistesgestörte, sind jahrelang in diesem Haus und gar nicht so unglücklich, wie du vielleicht meinst.“
Dann sagte er einen Satz, der mich nachdenklich machte: „Die Frauen und Männer sind gar nicht so irre, wie von den Normalos vermutet wird. Vielleicht nur verrückt im eigentlichen Wortsinn: ver-rückt. Möglicherweise hielten sie den Druck in unserer Erfolgs- und Ellenbogengesellschaft nicht mehr aus.“
„Vielleicht hast du ja Recht, Willi , und wenn wir nicht aufpassen mit unserer Sauferei, dann landen wir endgültig da drinnen auf dem Abstellgleis.”

Vorläufiger Endpunkt unseres Klinik-Spazierganges war der Fußballplatz. Ich staunte nicht schlecht, denn der Platz war bestens präpariert. Ein satter Rasen mit frisch gezogenen Kreidelinien lud zum Sport ein. Ich stellte die Frage: „Wer spielt auf diesem Platz?“
Willi war wieder einmal sarkastisch und fragte seinerseits: „Die Säufer gegen die Narren etwa? Das Personal kann’s nicht sein, es sind fast nur Frauen; und die Weißkittel spielen Tennis, nicht Fußball.”

Ich war gespannt, was der Termin am Nachmittag in der Neurologie bringen würde. Nach Auswertung der Daten wollte sich der Hirnspezialist mit mir unterhalten. Er empfing mich in Jeans und T-Shirt und verhielt sich seltsam kollegial. Er war keiner dieser Weißkittel, die nur Obrigkeit ausstrahlen. Auf meine Frage, was der Alkohol im Gehirn bewirkt, gab er mir eine allgemein verständliche Antwort – also ohne Fachchinesisch.
„Durch den Alkohol angeregt, schüttet dein Gehirn Botenstoffe wie Dopamin und Serotonin aus – versetzt das zentrale Nervensystem in einen rauschhaften Zustand, du spürst dich auf einer Welle. Das ist der Startschuss für ein Feuerwerk an Glücksgefühlen. Um diesen Kick zu wiederholen, trinkst du weiter. Zwei, drei Gläser später schlägt der positive Effekt ins Gegenteil um, aller Zauber ist verflogen, die Wirklichkeit nur noch ein Zerrspiegel.”
„Ja, aber …”, wandte ich ein.
„Nix aber, hör einfach zu”, unterbrach mich der Doc und referierte weiter:
„Was passiert im Gehirn? Die Nervenzellen fahren ihre Andockstellen für das Dopamin ein und der Glücksstoff prallt von den Zellwänden ab. Du wirst hundemüde, kannst deine Bewegungen nicht mehr koordinieren. Willst nur noch nach Hause (sofern du noch eines hast) und deinen Rausch ausschlafen.

Und das passiert im Gehirn: Die Nervenzellen fahren ihre Andockstellen für das Dopamin ein und der 'Glücksstoff' prallt von den Zellwänden ab. Nun ist endgültig Schluss mit lustig. In der Folge wirst du hundemüde, kannst deine Bewegungen nicht mehr kontrollieren und willst meistens nur noch nach Hause, sofern du noch eines hast, den Rausch ausschlafen. Dieser Schlaf wirkt wie Bewusstlosigkeit, nicht wie Erholung. Es fehlen die REM-Schlafphasen. Das sind die Nachtphasen, in denen Träume vorkommen. Ein Mangel an REM-Schlaf kann Konzentration, Gedächtnisleistungen und die motorischen Fähigkeiten negativ beeinflussen. Das ist es, dass dich nicht zur Ruhe kommen lässt, dich nicht arbeiten lässt und dich nur mehr an das eine denken lässt: So schnell wie möglich aus dieser grausamen Welt fliehen. Aus deiner Erfahrung weißt du, dass der Alkohol, egal in welcher Form, am schnellsten hilft. Auch wenn du das erste Glas nur mit Hängen und Würgen runterkippst, das zweite wird halten und beim dritten Glas bist du wieder ganz der Alte.“

Ich war blass geworden bei seinem Referat, es hörte sich an, als ob er mit mir schon mal auf Sauftour gewesen sei. Der Mann wusste Bescheid.
„Keine Angst, mein Freund, ich sage dir das nur, damit du deinen Feind kennenlernst, denn nur dann kannst du ihn auch besiegen. Wenn du mehr wissen willst über ein Leben ohne Alkohol, dann komme zu den Anonymen Alkoholikern, hier im Haus, Freitag, 19:00 Uhr. Mein Name ist Werner, ich bin Alkoholiker.“

Ich brauchte einen Moment, um diese Botschaft zu verstehen, aber dann rieselte es mir kalt über den Rücken, ich spürte zum ersten Mal ein Glücksgefühl, ohne zu trinken. Es funktionierte! Vor mir saß der lebende Beweis! Das war der Punkt. Ich wollte das Kribbeln spüren, ganz ohne bunte Tranquilizer in Flaschenform und Schwenkgläsern. Ich wollte lernen, wie man glücklich sein kann, ohne zu trinken. Ich hatte keine Angst mehr vor dem Morgen – und – was gestern war, ist vorbei. Es kann mir leidtun, aber ich kann es nicht ändern. Das Gestern ist nicht mehr unter meiner Kontrolle! Alles Geld dieser Welt kann es nicht zurückbringen; ich kann keine einzige Tat, die ich getan habe, ungeschehen machen. Ich kann nicht ein Wort zurücknehmen, das ich gesagt habe. Das gestern ist vorbei.

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