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LADY IN RED

Von Feierabend-Mitglied Samstag 04.01.2025, 10:29

Ein anstrengendes Seminar-Wochenende ist zu Ende. Mein Hirn ist vollgestopft mit den Juwelen geistreicher Sätze arrivierter Autoren. Das Gelernte ist vorerst nur das Gehörte.
Der Leiter unserer Schreibwerkstatt ist Gustav Breitenreiter. Ich mag ihn, den frankophilen Baskenmützenträger. Nenne ihn insgeheim „Monsieur Gustave“. Die geliebte Zigarre lässig in der Hand, referiert er von Flaubert bis Proust und von Kafka bis zu Heimito von Doderers Strudelhofstiege. Natürlich bekomme ich eine seiner gefinkelten Schreibaufträge mit auf den Weg. Die heutige Lektion ist eine Herausforderung und lautet: „Beschreibung einer U-Bahn-Bekanntschaft“.

Es muss nicht zwingend die U-Bahn sein, es darf auch eine Straßenbahn oder ein Bus sein. Das Kriterium der Aufgabe liegt in der Kürze der Fahrzeit, in der die „Anbahnung“ geschildert werden soll.
„Ha, das ist einfach, da kenne ich mich aus, das packe ich mit links“, denke ich und werde fast schon euphorisch. Schließlich bin ich der Senior der Klasse und verfüge als solcher über eine gewisse Erfahrung. Das müsste eigentlich ein Vorteil gegenüber den jungen Hüpfern sein. Ich kann auf ein turbulentes Leben, mit jeder Menge Bekanntschaften zurückblicken. Ich krame in meinen Erinnerungen, in flüchtigen Affären – und verwerfe sie wieder – ich lasse Unmengen an Episoden wie in einem Film vor meinem geistigen Auge ablaufen. Nichts. Mir fällt nichts einfach nichts Passendes ein.
Ich komme vom Land, bei uns gibt es keine U-Bahn und im Postbus kann man schon deswegen keine Bekanntschaften machen, weil man die Gesichter kennt. Alle, ohne Ausnahme. In meiner Jugendzeit, auch in den wildesten Zeiten habe ich nie eine Bekanntschaft im Bus gemacht. Frustrierend. Was ist mit meiner Phantasie? Ich muss etwas erfinden, denke ich.
Nachdenklich stehe ich am Bahnsteig und warte auf die S-Bahn. Gelangweilt fällt mein Blick auf ein schwarzes Plakat mit rosa Schrift:
„Jede Liebe verdient Respekt.“

Die Bahn rollt leise in den Haltebereich, druckluftgesteuerte Türen schwingen zurück. Ich finde einen Sitzplatz, der Platz gegenüber ist frei, da platziere ich meinen Rucksack, hole mein Skriptum heraus und mache es mir gemütlich. Ich sitze entgegen der Fahrtrichtung, die Türen sind hinter mir. In spiegelnden Scheiben erkenne ich, dass sich im letzten Moment ein roter Schatten in den Waggon zwängt. Das Zischen der Automatiktüren überdeckt einen atemlosen Gott-sei-Dank-Seufzer, der Zug nimmt Fahrt auf. Plötzlich steht eine rotbemäntelte Dame neben mir und sagt: „Das war knapp, ist dieser Platz noch frei?“
Höflich nehme ich mein verstreutes Krimskrams vom Platz gegenüber, setze mein freundlichstes Lächeln auf und antworte mit einladender Handbewegung: „Bitte gerne.“ Es wundert mich schon, dass sie ausgerechnet zu mir will, denn es wären durchaus noch andere Plätze frei gewesen. Die Dame um die Vierzig trägt ein rotes Cape, alles andere an ihr ist schwarz, auch die Haare. Sie setzt sich erlöst nieder, sucht meinen Blick und liefert mir, als ob sie meine Gedanken lesen könnte, die Erklärung: „Wissen sie, ich kann nur einen Platz nehmen, der in die Fahrtrichtung zeigt, ich muss sehen wohin die Reise führt.“

Eine taffe Lady. Kein schlechtes Argument, wenn es eine Ausrede ist. Muss ich mir merken. Ich verkneife mir ein sarkastisches Schmunzeln und antworte:
„Ah, verstehe, da haben sie Glück gehabt. Mir macht es nichts aus, verkehrt zu sitzen, ich bin ohnehin mit meinen Texten beschäftigt.“ Außer ich habe so ein charmantes Gegenüber, wollte ich sagen, tue es aber dann doch nicht.

Sie tippt auf meinen, mit Skripten gefüllten Rucksack, sieht mich mit großen dunklen Augen an und sagt: „Entschuldigen Sie meine Neugier, kommen Sie aus der Schule? Ich meine wegen der vielen Schriftstücke.“
Das amüsiert mich, meine Stimmung hebt sich deutlich, geradezu belustigt antworte ich: „Gewissermaßen ja. Ich bin ein, wenn auch in die Tage gekommener, Absolvent einer Literatur-Akademie. Dritter Bildungsweg sozusagen.“
Jetzt kichert sie plötzlich wie ein junges Mädchen, entschuldigt sich aber umgehend: „Verzeihen Sie, aber ich kann Sie mir beim besten Willen nicht in einer Schulbank vorstellen. Ich dachte eher an einen Lehrer, der von einem Elternsprechtag kommt.“
Sie sagt es mit einem entwaffnend, ehrlichem Lächeln, dabei bilden sich kleine Fältchen um ihre Augen. Ich bin entzückt. Die Frau hat was, das bestimmte Etwas, dass ich im Moment gar nicht definieren kann. Es gefällt mir, wie sie spricht, ihre Stimmlage ist Sopran.
„Und? Was treibt Sie an einem Samstag-Abend noch in die Welt hinaus?“
„Mich?“, sie zieht die Augen hoch, „gar nichts mehr, ich bin am Heimweg. Sie doch auch, oder?“
Schlagartig wird mir klar, dass ich mich in einer Situation befinde, die genau zu meiner U-Bahn-Bekanntschaft werden könnte. So spielt das Leben, denke ich mir. Soll ich ihr das sagen?, nein, das klingt wie eine billige Anmache, denke ich.
„Ja, mein Tag ist gelaufen, sehr gut sogar. Ich habe viel gelernt, mein Kopf ist voller Geschichten“, antworte ich.
„Das ist ja interessant, da sitzt mir doch glatt ein richtiger Schriftsteller gegenüber, oder soll ich Poet sagen?“ Sie strahlt mich regelrecht an und ich spüre wie mir das Blut in den Kopf schießt.
„Na ja, ich lerne noch“, entgegne ich tapfer, „aber ich habe ein Projekt in Arbeit.“
„Nur keine falsche Bescheidenheit, mein Lieber, ich unterrichte selbst und kann ganz gut einschätzen, wenn wer gut drauf ist.“
„Oh, das ist ja ein Ding. Was unterrichten sie denn, wenn ich fragen darf?“
„Schauspiel und Tanz. Ich arbeite selbstständig als Coach, vorwiegend mit Kindern und Jugendlichen. Manchmal schreibe ich auch kleine Stücke. Mini-Dramen und so.“

Nicht zu fassen, was bin ich für ein Glückspilz? So eine attraktive Frau. Ich vergesse auf der Stelle meine Aufgabe. Das hier ist Realität. Ich muss dieses Gespräch weiterführen, aber wie?, die Fahrt ist bald zu Ende. Andererseits will ich nicht aufdringlich erscheinen. Ich ringe mich durch zur nächsten Frage:
„Das ist ja hoch interessant, ich würde gerne mit Ihnen darüber sprechen, leider muss ich beim Hauptbahnhof aussteigen.“
„Ich auch“, sagt sie.
„Ist es sehr schlimm, wenn ich Sie auf einen Kaffee im Bistro einlade?“
„Nein, es ist nicht schlimm, ich würde gerne mehr über Ihr Projekt wissen.“
Ich kriege Gänsehaut. Der Zug wird langsamer und wir machen uns bereit zum Aussteigen. Jetzt kann ich meine Begleiterin in vollem Ausmaß betrachten. Und bin fasziniert. Diese Haare mit leichten Silberfäden, ihre Augen sind fast schwarz. Ihr Teint ist makellos, die kleinen Lach-Fältchen um die Augen machen sie noch attraktiver. Der absolute Hingucker ist aber ihr Cape in rot. Ich komme mir direkt schäbig vor in meinen Jeans und Lederjacke.

Das Bistro in der Bahnhofspassage ist noch offen. Ich habe schon wieder Glück, denn offensichtlich ist meine Tanzlehrerin auch Raucherin. Als sie meinem suchenden Blick bemerkt, zupft sie mich am Ärmel und zeigt auf den hinteren Teil der Bar. Da darf man rauchen, sagt sie und geht voraus. „Was darf ich Ihnen bestellen?“ frage ich ganz Gentleman-like und winke der Bedienung. „Großer Espresso und ein Glas Soda, danke.“
„Okay, für mich das gleiche.“ Die Bedienung rauscht davon. Wir schauen uns an und müssen plötzlich lachen. Es ist ein befreiendes Lachen. Wahrscheinlich sind wir beide etwas nervös.

„Also wenn wir schon so gemütlich beieinander sitzen, möchte ich mich erst einmal vorstellen. Ich bin Ferdinand, der Mann der diese kleine Episode wahrscheinlich aufschreiben wird.“
Jetzt lacht sie schallend und wie mir scheint, auch befreit auf.
„Du bist in Ordnung, Ferdinand! Ich darf doch Du sagen? Unter Künstlern wird nicht gesiezt, aber das weißt du ja. Ich glaube du hast Humor, das finde ich gut. Ich bin die Lydia.“
Sie drückt mir, gar nicht Lady-like, ziemlich fest die Hand. Ich erzähle von der Aufgabe unseres Monsieur Gustave und der geforderten Geschichte mit der U-Bahn-Bekanntschaft. Lydia kann sich nicht mehr halten vor Lachen.
„Das ist ja zum Schreien komisch. Ich habe schon viel erlebt, aber das ist einmalig. Du machst mich sozusagen zu deiner Komplizin in deiner Geschichte. Es ist ja nicht zu fassen. Einfach toll, ich möchte mehr wissen über dich und deine Literatur.“
Gerne gebe ich Auskunft über meine bescheidenen Anfänge. Wesentlich mehr interessiert mich das Jetzt und unsere Bekanntschaft. Ich will viel mehr über Lydia wissen. Über ihr künstlerisches Werk und was sie privat so treibt. Wir unterhalten uns prächtig, aus Kaffeeschlürfen wird Prosecco-nippen. Wir sind uns sympathisch.

Lachen macht frei, denke ich und gratuliere mir heimlich für mein Timing. Ich kenne mich eben immer noch aus … Nach einem weiteren Glas Prosecco schaut sie mich schelmisch an und fragt wie beiläufig:
„Gell Ferdinand, du liebst die Frauen. Sag nix, ich sehe es dir an, du siehst dich auf der Siegerstraße. Du siehst in mir mehr als nur eine Literatur-Kollegin, stimmt’s?“
Ich weiß nicht was ich sagen soll. Natürlich hat sie recht. Diese Frau hat mich vom ersten Moment an verzaubert. Ihre Mimik, ihre Gestik und nicht zuletzt ihre Stimme.
„Was ist so schlimm daran, Lydia?“
„Gar nichts. Du liebst die Frauen, Ferdinand“, sie holt sichtbar tief Luft und sagt mit einem entschuldigenden Lächeln: „Auch ich liebe die Frauen!“
Da fällt mir wieder das Plakat der etwas anderen Art in der S-Bahn ein:
"Jede Liebe verdient Respekt."



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