Spaziergang im Schneeregen
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Feierabend-Mitglied
22.12.2024, 10:18
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Ich erlaube mir, trotz widrigsten Schneeregenwetter eine Extrarunde zu drehen. Nicht ohne Grund, denn immer dann, wenn ich um schöpferische Ideen verlegen bin, erhoffe ich, dass mir beim Spaziereng(s)ehen ein Engel eine Geschichte ins Ohr flüstert. Heute führt mich eine leise Stimme in die Stadt. Tiefhängende Regenwolken drücken aufs Gemüt, von meinem Engel ist nichts zu spüren und von selbst kommt keine Inspiration. Missmutig brumme ich meinen Groll über das Mistwetter in meine Kapuze. Dieses grauslich dunkle Wetter hat selbst die Sensoren der Straßenbeleuchtung überlistet, denn obwohl es schon 10 Uhr ist, brennen die Lichter hell wie in der Nacht. B,
Die Straßen der Vorstadt sind bis auf einen Kies-Streuwagen der Stadtgemeinde leer, nur ein Arbeiter im orangefarbenen Overall kehrt mit einem Reisigbesen missmutig den Vorplatz am Friedhofseingang. Eine Warntafel weist darauf hin, dass an Schlechtwettertagen das Verweilen unter Bäumen, wegen der Gefahr herabfallender Äste, gefährlich und daher verboten sei.
Ich war lange nicht auf dem Friedhof, denke ich und ignoriere den Hinweis, gebe dem spontanen Einfall nach, an diesem Ruheort eine Runde zu drehen. Die feudalen Grabmäler an der Friedhofsmauer und die Mausoleen der reichen Familien, die selbst nach ihrem Tod noch Statussymbole brauchen, lasse ich links liegen. Mein Weg führt mich nach ganz hinten zu den Sozialgräbern. Ich finde das Grab meines Freundes aus vergangenen Zeiten. Wir waren seinerzeit gemeinsam allein und obdachlos. Er habe durchgehalten, so seine Worte vor ein paar Jahren, als er noch lebte. Nicht so wie ich, der aufgehört hatte mit diesem Leben und ihn allein zurückließ, weil er den Weg mit mir nicht gehen konnte. Er schaffte es nicht, hatte keine Kraft mehr. Es gab Zeiten, da fühlte ich mich ihm gegenüber als Verräter.
Jetzt stehe ich da vor diesem verwitterten Holzkreuz und lese vier Namen darauf. Männlein und Weiblein, bunt zusammengewürfelt nach dem Datum ihres ruhmlosen Abgangs. Und muss schmunzeln, denn eine seiner Grabgefährtinnen ist die Rosa Eisenkeil, die er schon zu Lebzeiten, ums Verrecken nicht leiden konnte. Ach Bruno, denke ich, du hast es auch nicht leicht, nicht mal jetzt hast du Ruhe.
Ich verabschiede mich von meinem Freund mit einem „Ciao“. Bruno war aus Bergamo.
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