Neu hier? Lies hier über unser Motto gemeinsam statt einsam.
Mitglied werden einloggen




Passwort vergessen?

11 8

Weihnachten im Zuchthaus 1959

Von Feierabend-Mitglied Freitag 12.12.2025, 09:50

1959 war ich Mitglied des Jugendkreises in unserer Gemeinde. Für Weihnachten planten wir ein Krippenspiel, das am 1. Feiertag im Zuchthaus Tegel stattfinden sollte. Ein ungewöhnlicher Ort, der in uns viele Fantasien und auch Ängste frei setzte. Mein älterer Bruder sollte Josef sein, mein jüngerer Bruder spielte einen Hirten und hatte für das Jesuskind ein Lied auf der Flöte zu spielen. Wir 20 Mädchen waren die Engel, die sich an den Händen hielten, eine Kerze verband uns und wir bildeten in weißen, langen Gewändern den Vorhang, der sich in der Mitte zu jeder Szene öffnete und danach wieder schloss. Wir Engel sangen mehrstimmig die Weihnachtslieder und sollten auf einem Harmonium begleitet werden.

Zwei Tage vor diesem Tag wurden die Requisiten und die Gewänder dort hingebracht, das machte der Pfarrer mit seiner Frau, die mit uns das Stück eingeübt hatte. Dann war es so weit und wir waren alle sehr aufgeregt, weil wir uns keine rechte Vorstellung davon machen konnten, was auf uns zu kam. Wir durchliefen die Sicherheitssperren, kamen in die Gefängniskapelle, überall Eisentreppen, vergitterte Fenster und viele Uniformierte. In der Sakristei zogen wir uns um und stellten uns im Altarraum auf. Die Kerzen wurden angezündet, das Harmonium spielte und ca 40 Männer wurden hereingeführt und nahmen in den Bänken in Sträflingskleidung Platz. Sie waren nur 4 Meter von uns Engeln entfernt, in der 1.Reihe saß die Frau des Pfarrers und der Gefängnisseelsorger.

Nun kam unser erstes Lied, es war mäuschenstill, am Ende der Bänke saßen Bedienstete. Auf ein Zeichen sangen wir das Lied: “Macht hoch die Tür, die Tor macht weit” und die Gefangenen sangen mit ihren tiefen Stimmen laut mit. Ich las in den Gesichtern der Männer, spürte einen starken Druck auf meiner Brust, es verschlug mir die Stimme. Frau Gesch in der ersten Reihe öffnete weit ihren Mund und da verstand ich und sang wieder mit. Alles lief so weit sehr gut, die Könige aus dem Morgenland brachten ihre Gaben und auch die Weisen sagten ihre Sprüche.

Nun war mein kleiner Bruder dran, er war ganz aufgeregt und rief laut: “Wo ist meine Flöte? ”Die wurde schnell aus der Sakristei geholt und er begann. Er verspielte sich immer wieder, brach in Tränen aus und ganz verzweifelt rief er zum Josef:"Spiel du, ich kann das nicht!" Maria nahm meinen Bruder auf den Schoß, Josef nahm die Flöte und spielte das Lied: "Kommet ihr Hirten" und mein kleiner Bruder sang mit. Ein brausendes Lachen kam von den Männern, sie lächelten sogar und ich vergaß fast, wo ich war.

Das Krippenspiel war zu Ende und es wurde still. Das Harmonium spielte beim Licht der Kerzen “Stille Nacht, Heilige Nacht." Die Kapelle war erfüllt von einem inbrünstigen Männerchor, viele Männer weinten, damals weinten Männer nicht. Es hat uns so tief berührt, dass wir zum Schluss alle weinten. Dann wurden die Gefangenen hinausgeführt. Stumm zogen wir uns um und fuhren nach Hause, niemand sprach. Wir hatten alle damit zu tun, das Erlebte zu verarbeiten.

@roshni

Du möchtest die Antworten lesen und mitdiskutieren? Tritt erst der Gruppe bei. Gruppe beitreten

Mitglieder > Mitgliedergruppen > Kreativ Schreiben > Forum > Weihnachten im Zuchthaus 1959