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Der Heilige Abend am Bahnhof

Von Feierabend-Mitglied Mittwoch 18.12.2024, 17:41

Diese Geschichte liegt schon einige Jahre zurück. Zu der Zeit gab es noch keine Handys und auch keine Massenzuwanderung.
Der Morgen des Heiligen Abend in Frankfurt begann nicht gut. Es nieselte und der Wetterbericht sprach von einem heftigen Kälteeinbruch im Rhein-Main-Gebiet. Die Autofahrer sollten vorsorglich den Wagen in der Garage lassen.
Unglücklicherweise behielten die Meteorologen Recht. Am Nachmittag legte sich ein Nieselregen in Form von Blitzeis auf Stadt und Land. Autofahren wurde zur lebensgefährlichen Rutschpartie. Flugzeuge konnten weder landen noch starten. Scharen von gestrandeten Flugreisenden mussten die Heilige Nacht auf den wenig komfortablen Treppen und Eingangsbereichen der wenigen Flughafenhotels verbringen. Chaos allerorten!
Wir aber wollten auf jeden Fall zu meiner Mutter nach Darmstadt. Sie wartete auf uns und ich wollte sie nicht enttäuschen. Zum Glück funktionierten die öffentlichen Verkehrsmittel einigermaßen problemlos. Die Fußwege waren gestreut.
Der Heilige Abend im Hause meiner Mutter war herzlich. Keiner in unserer großen Familie konnte wie sie Geschichten erzählen, die uns erheiterten und dennoch zu Herzen gingen. Später kamen noch meine Schwester und mein Bruder mit ihren Ehepartnern hinzu. Wir verbrachten einen wunderschönen Abend vor dem bunt geschmückten, leuchtenden Weihnachtsbaum. Als Abschluss gab es einen herzhaften Tee mit Rum und einen unsagbar leckeren Apfelstrudel mit Schlagsahne, den meine Mutter selbst gebacken hatte.
Mein Schwager fuhr uns mit seinem Auto mit Allradantrieb zum Darmstädter Bahnhof. Es war kurz vor elf Uhr und aus den Abfahrtsplänen war zu erkennen, dass wir noch eine ganze Weile warten mussten. Wir setzten uns auf eine Bank im Wartesaal. Neben uns saß ein ungewöhnlich gutaussehender junger Afrikaner. Seine Kleidung hatte einen altmodischen Schick. Er trug feste Stiefel und dicke, selbstgestrickte Handschuhe. Wir kamen mit ihm ins Gespräch. Er wollte zu einer christlichen Einrichtung in der Nähe von Darmstadt, die ihn zu Weihnachten eingeladen hatte. Aber aufgrund einer Zugverspätung hatte er den letzten Bus und die letzte Straßenbahn verpasst und musste daher bis zum nächsten Morgen auf die Weiterfahrt warten. Ich erinnere mich nicht mehr, aus welchem Ort und welchem afrikanischen Land er kam. Weil er kein Deutsch sprach, fragte er uns sehr höflich in Englisch, ob wir eine Telefonnummer für ihn anrufen könnten, damit die Leute, die auf ihn warteten, wussten, dass er in Darmstadt angekommen war. Leider meldete sich keiner am anderen Ende des Telefons. Es war wohl eine amtliche christliche Einrichtung, die aber um diese nächtliche Zeit, noch dazu am Heiligen Abend, telefonisch nicht besetzt war. Auch andere Nummern, die wir ausfindig machten, gingen ins Leere.
Der junge Mann war sehr dankbar für die Mühe, die wir uns seinetwegen machten und schaute uns mit seinen dunklen, intensiv leuchtenden Augen ruhig und freundlich an. Er war uns sehr sympathisch. Angeregt unterhielten wir uns mit ihm eine ganze Weile. Aber was konnten wir noch für ihn tun? Dann mussten wir zu unserem Zug eilen und ließen ihn mit seinen ungelösten Problemen über sein weiteres Fortkommen zurück.
Im Zug schaute ich meinen Mann nachdenklich an. Ich bin wahrhaftig kein religiöser Mensch. Ganz im Gegenteil! Plötzlich aber schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht ist dies ein Zeichen des Himmels. Jesus ist in Gestalt dieses Afrikaners auf die Erde gekommen und wir haben uns nicht ausreichend bemüht, ihm an diesen Heiligen Abend eine Unterkunft zu besorgen. Die Vorstellung des allein, im kalten, zugigen Wartesaal zurückgebliebenen Mannes mit dem kindlich gläubigen Antlitz war für mich unerträglich. Ich war untröstlich und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Mir war, als hätte Jesus an unsere Türe geklopft und wir hätten ihn abgewiesen. Die Einsicht kam zu spät. Die Chance war vertan. Mein Mann nahm mich in den Arm und wiegte mich sacht. Langsam beruhigte ich mich. Aber immer am Heiligen Abend erinnere ich mich an dieses Erlebnis und jedes Mal überkommt mich dabei eine tiefe Traurigkeit, die ich selbst nicht verstehe.

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