Neu hier? Lies hier über unser Motto gemeinsam statt einsam.
Mitglied werden einloggen




Passwort vergessen?

5 4

Die Mary Celeste

Von billyblue vorgestern, 18:44

Logbucheintrag, Hochseekutter Mary Celeste, Kapitän Hein Brasig, den 8.3. 2024:
„Seit sieben Tagen schippern wir schon nördlich der Shetlandinseln 63 Grad nördlicher Breite und 7 Grad westlicher Länge. Kein vernünftiger Fang ist weit und breit in Sicht. Es ist so als ob dieser Teil des Nordatlantiks vollkommen leer gefischt sei. Wenn das so weiter geht werden wir in 3 Tagen mit leeren Laderäumen wieder in Cuxhaven zurück sein. Ende“
Mein Hochseekutter ist 30 m lang, der Motor hat 700 Ps und mein ganzer Stolz, vier Besatzungsmitglieder, die sich alle zu Tode langweilen. Der Fang der letzten Tage ist kaum der Rede wert. Wenn das so weiter geht bin ich pleite. Der Kutter hat mich im letzten Jahr immerhin gebraucht € 567.000 gekostet. Wie soll ich nur das Darlehen bedienen?
Unser Fischfinder, eine spezielle Art eines Echolotes, zeigte bis her außer auf ein paar kleinen Schwärmen, absolut nichts an. Auf dem Display kann man Rückschlüsse auf die Größe der Fische schließen. Die angezeigten Symbole gaben diesmal nicht viel her. Ich sollte meine Frau Renate über Seefunk anrufen, vielleicht kann die mich ein wenig aufmuntern. Früher war das noch umständlich. Man musste sich über Radio Norddeich oder über Scheveningen Radio anmelden. Zum Glück ist das heute dank Satelittenfunk einfacher geworden. Ich schwanke noch, werde aber in diesem Augenblick durch das Sonar abgelenkt. Ein Riesenschwarm Heringe vor uns. Wenn ich den ins Netz bekomme, bin ich alle monetären Sorgen los.
Volle fahrt voraus. Nach wenigen Stunden sind die Netze voll und an Deck zappeln die Fische. Wir machen uns an die Arbeit. Die Planken werden glitschig durch die ausgenommenen Fische. Alles ist hektisch, doch durch die jahrelange Routine weiß jeder, was er zu machen hat. Ich stehe gerade vor dem Steuerhaus, schaue mir die Szene an und bin zufrieden. Plötzlich erstarrt Piere, es verschlägt ihm die Stimme. Stumm deutet er steuerbords, eine riesige Welle rollt auf uns zu. Ein sogenannter Kaventsmann, Riesenwellen, die plötzlich durch den Wind entstehen und meilenweit fließen. Ich springe ins Steuerhaus um die Marie Celeste zu drehen. Zu spät, wir jagen den Kamm hinauf, dann schlägt sie über uns zusammen. Das was ich bewusst wahrnehme ist die Crew, die sich vergeblich festzuklammern versucht. Dirk ist derjenige, der es am längsten schafft. Dann geht auch er wie seine Kameraden vor ihm über Bord. Ich sehe noch wie das gelbe Ölzeug plötzlich nicht mehr zu sehen ist. Dann gehen die Lichter aus, eine gnädige Ohnmacht hüllt mich ein und schützt meinen Verstand vor dem unsagbaren Grauen. An wie lange ich weggetreten war, kann ich mich nicht erinnern aber langsam komme ich wieder zu mir. Sofort wird mir bewusst, dass etwas nicht stimmen kann. Mein Kopf dröhnt, irgendwo muss ich ihn kräftig angeschlagen haben. Es ist dämmrig, nur die Notbeleuchtung spendet ein kümmerliches Licht. Nun wird mir bewusst was sich falsch anfühlt. Die Welt hat sich gedreht. Mein Fuß hat sich bei dem Unglück irgendwie verfangen, ich hänge ich mit einem Bein von der Decke. Das Boot ist gekentert und die gewohnte Perspektive hat sich gedreht. Dabei muss mein Fuß sich in einem Spalt verfangen haben. Jetzt heißt es Ruhe bewahren, nur keine Panik aufkommen lassen. Ich versuche hin und her zu schwingen, meinen Schuh zu erreichen. Vielleicht komme ich dann mit meinen Händen an die Decke, um mich zu befreien. Nach einer Weile sehe ich ein, der Versuch ist sinnlos. Meine Bauchmuskeln wollen nicht mehr. Als Folge bleibe ich erst mal bewegungslos weiter hängen. Anscheinend bin ich der Einzige, der das Kentern überlebt hat. Wie es aussieht ist die Mannschaft durch ihren schnellen Tod glücklicher dran als ich. Einen Meter von mir entfernt pendelt das Mikrofon der Funkanlage, unerreichbar für mich, keine Chance Mayday ab zu setzen. Allerdings wäre eine Hilfe bestimmt zu spät gekommen, das Sterben wäre aber nicht so einsam geworden. Meine Familie kommt mir in den Sinn, meine Frau, mein Sohn. Sie werden mich nicht wiedersehen aber die Erinnerung an sie gibt mir doch etwas Kraft. Ich weiß noch wie heute, als ich Renate kennen lernte. Es war vor 16 Jahren. Eigentlich wollte ich nur in meiner Stammdisco Dampf ablassen, meinen Stress abbauen. Als ich mich an das Licht gewöhnt hatte, sah ich sie auf der Tanzfläche. Ein Traum von einer Frau. Langes dunkles Haar, welches wild bei jeder Bewegung ihren Kopf umhüllte. Ein rotes, knappes Top betonte ihren Busen, ein schwarzer superkurzer Rock gab den Blick auf zwei schlanke, bis zum Himmel reichende Beine frei. In dem Flackerlicht kam sie mir wie ein himmlisches Wesen vor, einfach zauberhaft. Ich starrte wie gebannt, gab mir endlich einen Ruck und versuchte sie anzutanzen. Erst wurde ich nicht beachtet, doch nach einer Weile, schien sie mich doch wahr zu nehmen. Anscheinend kam ich bei ihr an. Sie lächelte zurück. Nach ein paar Tänzen ging sie Richtung Bar. All meinen Mut zusammennehmend folgte ich ihr, sprach sie an um sie auf einen Drink einzuladen. Damit begann mein Glück. Ein Jahr später waren wir verheiratet und kurze Zeit darauf meldete sich unser Björn an. Es war alles perfekt, sollte das jetzt so enden? Mein Großvater und mein Vater sind auf See geblieben, setze ich heute diese „Familientradion“ fort? Auf diese Ehre möchte ich eigentlich gerne verzichten. Björn hatte sich auch schon von dem Virus der christlichen Seefahrt anstecken lassen. Sein Traum war irgendwann es, wenn er älter wäre, auf der Brücke eines großen Handelsschiffes zu stehen. Ob er allerdings nach meinem Tod damit anfangen wird, wage ich zu bezweifeln.
Luft habe ich wohl noch im Überfluss, zu viel um das Ende abzukürzen. Unter dem Türspalt dringt schon das Wasser herein, zwar ganz langsam, aber unaufhörlich. Mein Blut steigt mir in den Kopf und erzeugt einen mittelschweren Druck. Sollte ich durch einen Hirnschlag schnell sterben oder langsam ertrinken? Die beiden Alternativen sind nicht so besonders empfehlenswert.
Ich versuche noch mal zu Pendeln, nee vergeblich, meine Bauchmuskeln sind der Belastung nicht gewachsen. Vielleicht hätte ich mehr trainieren sollen, aber der Entschluss, kommt jetzt entschieden zu spät. Ich sehe das Wasser langsam steigen. Vielleicht noch eine halbe Stunde, dann es hat mich erreicht. Welche Konsequenzen damit verbunden sein würden, ist mir schon klar. Es scheint, das werden die letzten Minuten meines Lebens werden. Irgendwie bin ich aber vollkommen ruhig bei diesem Gedanken. Als gläubiger Moslem würde ich das Kismet nennen. Alles ist im Buch des Lebens vorbestimmt. Na gut, soweit möchte ich doch nicht gehen, aber die Lage ist aussichtslos. Die Minuten rinnen dahin. In einem Krimi würde man jetzt eine Digitaluhr mit roten Digits sehen, die sich unbarmherzig der Null nähern. Aber hier tobt das wirkliche Leben und das ist bis auf mein Ende weniger dramatisch. Mittlerweile werden meine Haare nass, das Wasser steigt weiter bis über meine Augen. Ich wusste gar nicht, dass Salzwasser so brennt, noch ein paar Zentimeter mehr und es läuft in meine Nase. Ich fange an zu Würgen, noch ein paar Sekunden und ich atme das Wasser ein. Ein unheimlich schmerzhafter Hustenreiz überfällt mich. Bis jetzt war ich ziemlich ruhig, da ich mich mit meinem Tod abgefunden habe. Zum Glück hatte ich keine Ahnung gehabt wie schmerzhaft das Ertrinken sein kann. Meine Lungen bersten, füllen sich mit Wasser. Es schmerzt, so habe ich es mir nicht vorstellen können. Ich werde ohnmächtig und fühle mich plötzlich ganz leicht. Mein Körper beruhigt sich, pendelt langsam aus. Ein helles Licht, das vor mir auftaucht zieht mich unaufhörlich an. Dann nichts mehr, nur noch Schwärze.
Nachdem die Mary Celeste nicht mehr auf den Radarschirmen zu sehen ist, steuern die Kutter aus der näheren Umgebung auf deren letzte Position zu. Doch sie ist ohne ein Zeichen zu hinterlassen, spurlos verschwunden. Es bleibt nur noch übrig, der Ehefrau des Steuermanns mit zu teilen, dass er die Familientradition fortgesetzt hat.

Du möchtest die Antworten lesen und mitdiskutieren? Tritt erst der Gruppe bei. Gruppe beitreten

Mitglieder > Mitgliedergruppen > Kreativ Schreiben > Forum > Die Mary Celeste