Mein Opa Jakob
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Feierabend-Mitglied
15.12.2024, 22:50
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Mein Opa Jakob
Als mein Großvater 1880 geboren wurde, regierte in Wien noch Kaiser Franz Josef II. und in Berlin regierte
Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck unter Kaiser Wilhelm I. das deutsche Reich. In Rußland regierte Zar Alexander II. Nikolajewitsch aus dem Haus Romanow-Holstein-Gottorp.
Das Saargebiet, wie es damals hieß, war seit dem gewonnenen deutsch – französischen Krieg von 1870 – 1871 wieder deutsch. In diese Zeit der noch absoluten Herrscher wurde mein Opa also geboren. Das Militär prägte das öffentliche Leben. Aber auf dem Land in den Dörfern lebte man noch in der vorindustriellen Zeit wie seit hunderten von Jahren im Rhythmus der Jahreszeiten von der Landwirtschaft. Als der Opa 18 Jahre alt war, wurde er zu den Ulanen eingezogen, eine mit Lanzen bewaffnete Gattung der Kavallerie. Das Reiterregiment der Ulanen lag bei Kaiserslautern. Dort diente er bis 1904, kam nach Hause und heiratete eine Tochter aus dem Nachbarhaus. In der Heiratsurkunde der Kirche steht als Beruf Ackerer und Kaufmann. Als 1921 mein Vater geboren wurde, stand neben Ackerer und Kaufmann noch Schöffe und Gerichtsmeier. So war also mein Opa ein Kind seiner Zeit, geprägt von preußischem Obrigkeitsdenken, Gehorsam und Pflichterfüllung.
Als ich dann geboren wurde, war der Opa schon 68 Jahre alt, zu der Zeit schon ein alter Mann. Ich hatte immer ein bisserl Respekt vor ihm, eigentlich ein bisserl Angst. Ein inniges, gar zärtliches Opa – Enkelverhältnis, das gab es nicht. Er hatte immer entweder einen Blaumann und eine französische Baskenmütze an, wenn er auf dem Acker oder bei seinen Bienen oder im Stall arbeitete oder einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und Stehkragen, wenn er in seinem Büro arbeitete. Wenn ich ihn im Büro besuchte, saß er meist an einem großen eichenen Schreibtisch über seinen Büchern.
Ende September 1957, ich war neun Jahre alt, schickte mich die Mama zum Opa, um ein Glas Bienenhonig zu holen. Der Opa ist krank und liegt im Bett, sagte die Oma. Sie brachte mich ins Schlafzimmer, wo ich noch nie gewesen war, und der Opa lag schlafend im Bett. Die Oma schob einen Stuhl ans Kopfende des Bettes. Ich setzte mich hin, der Opa wachte auf. Schön, daß du mich besuchst, sagte er, geh zur Oma, sie soll dir die Zeitung geben. So, sagte er, jetzt lies mir was vor. Und ich las, obwohl ich den Inhalt dessen, was ich da vorlas, nicht verstand. Etwa eine Stunde saß ich da und las dem Opa aus der Zeitung vor. Maria, rief er, gib dem Bub 2 Franc und zu mir sagte er, du kommst morgen wieder zum Vorlesen. 2 neue Franc, das war für mich ein Vermögen und die 2 neuen Franc bekam ich jeden Tag, wenn ich dem Opa vorgelesen hatte. So ging das bis zum 4.Oktober 1957, einem Freitag. Ich lief nach der Schule zum Opa, um mir meine 2 Franc zu verdienen. Entgegen aller Gewohnheit war das Haus voller Leute, alle meine Onkel und Tanten, auch Papa und Mama waren da.
Dein Opa ist gestorben, sagte mein Papa und verstellte mir den Weg ins Schlafzimmer. Ich will zu ihm, sagte ich und Papa ließ mich ins Zimmer.
Im Bett lag der Opa und sah aus, als ob er schliefe. Ich konnte gar nicht glauben, daß er tot sein sollte und ich nie wieder mit ihm sprechen könnte. Er strahlte Ruhe und Frieden aus und ich hatte kein bisschen Angst mehr vor ihm.