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Eine ungewöhnliche Tiergeschichte

Von Grunewaldturm Samstag 01.11.2025, 10:47

Herr X, ein kastrierter Kater mit getigertem Fell, lebte in dem Haus meines Freundes und seiner Familie wie Gott in Frankreich. Er hatte alles, was er brauchte, bis hin zum komfortablen Korb am Kamin und einer eigenen Katzentür zur Gartenveranda. Er wurde maßlos verwöhnt, dennoch kam er hin und wieder mit einer Feldmaus an, um zu beweisen, dass er sich seine Frühstücksmilch verdient hatte.
Eines Januarmorgens stürzte Sohn Martin herein und schrie, Herr X habe ein junges Wildkaninchen gefangen und sei drauf und dran, ihm den Garaus zu machen. Das Opfer, ein kleines, graubraunes Fellbündel, hockte starr vor Angst da. Am linken Ohr blutete es aus zwei Wunden. „Papa du musst es retten!“ Mit Tränen in den Augen stampfte Martin verzweifelt mit dem Fuß auf, was den Kater derart einschüchterte, dass mein Freund das kleine Kaninchen greifen konnte. Doch als er es in den Armen hielt, sank es, wie tot vor Schreck plötzlich zur Seite. „Das kleine Karnickel“ – abgekürzt DKK –, wie die Familie es zu nennen pflegte, blieb nur am Leben, weil Martin es partout nicht sterben lassen wollte. Es atmete kaum noch, aber er hielt es über eine Stunde fest an sich gedrückt. Endlich erwachte es, blieb aber weiter mit geschlossenen Augen hocken und verweigerte jegliche Nahrung. Am Abend flößte Martin ihm ein bisschen Milch mit Traubenzucker und Weinbrand ein.
Martin hielt die ganze Nacht bei dem unruhig schnaufenden Tier Wache, nachdem er es in eine Puppendecke gewickelt in den Katzenkorb gebettet hatte. Der Kater war empört über diesen Affront, doch Martin ließ ihn vernünftigerweise trotzdem im Zimmer. Herr X sollte lernen, dass er DKK nie wieder etwas zuleide tun durfte.

Beim Frühstück berichtete Martin gähnend, aber glückstrahlend: „DKK ist über den Berg. Nach der letzten Cognac Milch hat es sich sogar schon seinen Schnurrbart geputzt.“ Später brachte er dem Tier eine Handvoll Löwenzahnblätter und Klee aus dem Garten. Als es das Grünzeug verputzt hatte, hopste es aus dem Korb, machte einen Luftsprung, drehte eine Art Pirouette und kehrte in den Korb zurück.
Mein Freund hatte auf dem Grundstück einige große, mit Maschendraht eingefriedete Gehege angelegt, in denen er unter annähernd natürlichen Bedingungen das soziale Verhalten von Wildkaninchen studierte. Martin ließ es nicht zu, dass er DKK dort hineinsetzte. Er meinte zu Recht, die großen Kaninchen würden DKK drangsalieren, aber der wahre Grund war, dass er es als Haustier haben wollte. So wurde das Karnickel als vollwertiges Mitglied in die Familie aufgenommen. Es erwies sich zum Erstaunen aller von Anfang an als ungemein zutraulich und gescheit. Wildkaninchen lassen sich normalerweise nur schwer zähmen und abrichten. Sie waren zweifellos voreingenommen, doch durch seine Gelehrigkeit und sein anschmiegsames Wesen eroberte DKK die Herzen der Familie im Sturm.

DKK war sehr verspielt. Nach dem Tee, den es schwach und mit Zucker nahm, war es stets zu allerlei Späßen aufgelegt. Besonders belustigte es ihn, wenn man es zu fangen suchte; oft wurde ein regelrechtes Versteckspiel daraus. Gewöhnlich verkroch es sich unter irgendein Möbelstück, aber wenn man es zu lange nicht fand, trommelte es mit den Hinterläufen, um auf sich aufmerksam zu machen. Dem Karnickel stand das ganze Haus offen. Oft lief es die Treppen hinauf in den ersten Stock und äugte hinter Mauerecken hervor, um zu sehen, ob man auch nachkam. Das Tier war stubenrein; es hatte bald gelernt die Katzentür zu benutzen – eine weitere Demütigung für Herrn X.


Um sich verständlich zu machen, bediente sich DKK einer Reihe von Zeichen, die wir mit der Zeit zu deuten wussten: Ein dumpfes Grunzen war begeisterte Zustimmung, einmaliges Klopfen mit dem Hinterlauf freundliche Ablehnung, mehrmaliges Klopfen ein entschiedenes Nein, manchmal auch Ausdruck von Ärger oder Angst. Ein langgezogenes Zischen war DKKs Imitation des so oft gebrauchten psst (Ruhe). Dieser beschwörende Laut kam stets zuerst, wenn es jemanden für ein Spiel gewinnen wollte.

Zwischen DKK und Herrn X war das Verhältnis weiterhin gespannt. Da dem Kater eingeschärft worden war, dem Karnickel ja nichts zu tun, stand er, sowie es erschien, aus seinem Korb auf und entfernte sich mit ärgerlichem Schwanzschlagen, das durch des Karnickels Versuche, mit dem stolzen Anhängsel zu spielen, nur noch wütender wurde. Dann fand man die beiden eines Abends Seite an Seite auf dem Kaminvorleger. Herr X leckte dem Karnickel schnurrend das Fell. Mir fiel ein, dass ich DKK am Nachmittag unter der Katzenminze in der Erde hatte wühlen sehen. Es roch noch immer nach der Pflanze, und diesem Duft kann bekanntlich kaum eine Katze widerstehen. Von da an waren die beiden die besten Freunde, obwohl das Karnickel weiterhin den Korb für sich in Anspruch nahm.

Für sein Leben gern trieb es sich im Garten herum. Es kostete viele Stunden, bis man ihm abgewöhnt hatte, an Blumen und Gemüsepflanzen zu knabbern und in den Beeten zu scharren. Mein Freund bediente sich dazu seiner Sprache – zweimaliges Fußstampfen – und rief dabei laut: „Nein!“ Das wirkte schließlich, aber dafür musste er auch grunzen und es ausgiebig loben, wenn es brav war.
Wenn niemand für DKK Zeit hatte, setzte man es in ein transportables Maschendrahtgehege, wo es nach Herzenslust grasen konnte. Das ging ein paar Tage gut, aber dann mussten sie es eines Nachmittags mit Gewalt hineinbefördern. Es wollte absolut nicht und trommelte zum Zeichen des Protestes wie wild mit den Hinterläufen.
Die plötzliche Abneigung gegen das Gehege entpuppte sich als Todesangst. An dem Tag gelang einem Wiesel, was es ohne Wissen der Familie schon einmal versucht haben musste: Es drang in das Gehege ein. DKK kauerte vor Schreck wie gelähmt in einer Ecke und stieß einen herzzerreißenden Angstschrei aus. Zum Glück war die Hausfrau in der Nähe und konnte es retten, bevor das Wiesel zupackte.
Als DKK sich nach ein paar Stunden erholt hatte und seine glasigen Augen wieder klar wurden, versprach mein Freund ihm, dass er es nie mehr einsperren würde. „Wenn je wieder ein Wiesel hinter dir her ist“, belehrte er es, „dann renn, so schnell du kannst durch die Katzentür in mein Arbeitszimmer. Ich sorge dafür, dass die Tür dort immer offen ist.“
Das Tier verstand ihn nur zu gut und wich fortan nicht mehr von seiner Seite. An Regentagen, wenn es ihm draußen nicht gefiel, leistete es ihm Gesellschaft, während er am Schreibtisch arbeitete.
Manchmal sprang es ihm, trotz lauter Aufforderungen, schleunigst zu verschwinden, unbekümmert auf den Schoß und von dort im Handumdrehen auf den Schreibtisch, um sich schließlich auf dem Buch niederzulassen, in dem er gerade las, oder auf dem Brief, an dem er schrieb.
Was blieb ihm dann anderes übrig, als das Karnickel aufzunehmen, sein weiches, schnurrbärtiges Gesicht zu küssen, die kecken schönen Augen zu bewundern und ihm zu sagen, was für ein lästiger Patron es sei?

Eine Drüse am Kinn der Kaninchen sondert einen Duftstoff ab, mit dem sie ihr Revier und ihren Besitz markieren. Wenn er DKK liebkoste, benetzte es ihn mit ein paar Tröpfchen und machte deutlich, dass es ihn als sein persönliches Eigentum betrachtete.
Es machte DKK offensichtlich großen Spaß, ihm beim Reden zuzuhören. Das Tier saß dann ganz still da und ließ ein Ohr hängen, so, als halte es seine Stimme auch bei halber Lautstärke für durchdringend genug. Sobald er stillschwieg, richtete es augenblicklich beide Ohren auf und hoppelte umher, als wollte es sagen: „Na, was ist? So erzähl doch endlich weiter!“
Dieses Karnickel war unerhört anhänglich und entfernte sich auch auf gemeinsamen Spaziergängen nie weit von ihm. Sowie sich eine Gefahr zeigte, etwa eine Katze, ein Hund oder ein Habicht, kam es gleich angewetzt und sprang ihm in die Arme.

Als der Herbst kam, war DKK zu einem schönen, großen Tier herangewachsen. Das Kaninchen hatte keine Angst mehr vor den Hunden der Leute, die zu Besuch kamen, sondern blieb, wo es war, trommelte mit den Hinterläufen sein „Nein“ und hieb mit seinen scharfbekrallten Vorderpfoten um sich.
Eines Novemberabends kehrte es so lange nicht zurück, dass mein Freund schließlich auf die Veranda hinaustrat und nach ihm rief. Es kam sofort angehoppelt und legte sich in den Katzenkorb, wo es sich den Pelz, der voll Erde war, reinigte.
„DKK gräbt sich einen Bau“, konstatierte Martin kenntnisreich. „Ich habe es heute Nachmittag oben im Wald beobachtet. Guck doch mal, was es für einen dicken Bauch hat!“

Irgendwie hatte das Karnickel einen Bräutigam gefunden. Die Familie bekam ihn allerdings nie zu Gesicht. Kurz vor Weihnachten krabbelten vier Junge aus dem Bau. In den folgenden Monaten produzierten DKK und der mysteriöse Rammler noch vier weitere Würfe, und mit jedem lockerte sich die Bindung des Tieres an uns. Schließlich kam es überhaupt nicht mehr, ließ sich aber die Besuche der Familie weiterhin gefallen …

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