Rettet die diffizile Sprache!
Von Feierabend-Mitglied 13.10.2019, 21:54
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Zu diesem Thema stelle ich hier mal einen sehr guten Beitrag von Jörg Scheller von der Stuttgarter Zeitung ein, dem ich nur von Herzen zustimmen kann – und freue mich auf Eure Kommentare.
Rettet die diffizile Sprache!
Einfache Sprache führt in der Konsequenz zu einfachem Denken – das oft im Widerspruch zur komplexen Realität steht.
Unkomplizierte Sprache ist in Mode. Wir sind angehalten, möglichst einfach und verständlich zu formulieren. Runter vom hohen Rhetorik-Ross! Keine arroganten Schachtelsätze mehr! Fremdwörter raus! Zwar ist das Anliegen, keine Menschen sprachlich auszugrenzen, überaus nobel. Wer aber kümmert sich um die in Bedrängnis geratene komplizierte Sprache? Allerorten wird ihr Misstrauen, ja Feindseligkeit zuteil, sogar an Hochschulen, die in ihrer Außenkommunikation zusehends auf niederschwelligen Werbesprech einschwenken. Vorbei ist auch die Zeit, da verschraubte Theorien ein Initiationsritual der Gegenkultur darstellten. Selbst in Aktivistenzirkeln setzt man auf verbale User Friendliness, um niemanden zu verschrecken, vor allem nicht potenzielle Geldgeber.
Dabei ist komplizierte Sprache nicht nur eine Barriere. Sie ist auch Sparringspartnerin für mentales Training. Unkomplizierte Sprache ist praktisch und komfortabel, aber man wächst nicht an ihr. Für die Kommunikation ist sie das, was der Pauschalurlaub für das Reisen ist: alles hübsch geregelt, keine Herausforderungen. Von so einer Reise kehrt man unverändert zurück. Komplizierte Sprache hingegen ist wie eine Individualreise mit dem Rucksack durch unwirtliches, zerklüftetes Gelände: nicht zwingend besser, aber anstrengender, herausfordernder, intensiver. Von so einer Reise kehrt man als ein Anderer zurück. Es bedarf eines gewissen Mutes, sich in einen Textdschungel zu wagen, der nicht wie ein liebevolles skandinavisches Kinderbuch strukturiert oder in der flauschigen Wolle des Marketing-Slangs gefärbt ist. Enttäuschung und Frust sind vorprogrammiert. Umso größer der Stolz, wenn man die Lichtung erreicht.
In komplizierten Texten, zumindest in qualitätsvollen, findet man keine mundgerecht angerichteten Ergebnisse des Denkens vor. Vielmehr erlebt man Denken als Prozess. Dieser Prozess ist komplex, verschlungen, sprunghaft, widersprüchlich. Verschwindet die komplizierte Sprache aus dem Alltag, wird Kommunikation zur Wellnesszone, die eine verzerrte Weltsicht begünstigt. Das Leben erscheint als etwas Einfaches und Geordnetes, nicht als jenes Verworrene, Unvorhersehbare, Überfordernde, das es tatsächlich ist. Früher oder später bricht die Realität umso schmerzhafter in diese Wattewelt ein. Man muss nicht so weit gehen wie Theodor W. Adorno, der in der Fremdwortfeindlichkeit eine Vorstufe der Fremdenfeindlichkeit sah. Eine sportliche Einstellung zur Kompliziertheit würde schon genügen. Mit dem Denken ist es wie mit dem Muskeltraining. Nur wenn der Muskel manchmal überstrapaziert wird, beginnt er zu wachsen.
© Stuttgarter Zeitung vom 21.09.2019