Ruhe in Frieden, Herr Nachbar 🕯️

Als ich hier in dieses merkwürdige Kaff zog, hat man mich gewarnt, vor Menschen die "überall stehlen", und vor anderen, vor denen man sich in Acht nehmen muss.
Es sind eher die Warner gewesen, so stellte es sich heraus, vor denen man sich wirklich in Acht nehmen mußte. Es kam nämlich ziemlich viel dummes Zeug aus deren Mund.

Ich kann mich an unsere erste Begegnung nicht erinnern. Du fielst aber auf, durch Deine Körpergröße und Deinen Lockenkopf... Ich empfand Dich als sehr zurückhaltend. Aber Du warst freundlich und hast zurückgegrüßt. Eine sympathische Erscheinung sozusagen.
Damals war ich noch mit einzelnen Leuten unterwegs. Und jedesmal, wenn ich Dich mit jemand von diesen gesehen habe, hieß es: "ach da schau, unser Schwuler."
Ich war entsetzt, entsetzt, dass man so herablassend belustigend über Dich sprach. Nach einem der wenigen Feste die ich hier besuchte, hatte ich noch ein richtig schönes Gespräch mit Deiner Frau.

Immer öfter wurde ich von anderen darauf hingewiesen, dass man "bei dem" vorsichtig sein muss.
Eines Tages bekam ich Besuch von einem Arbeitskollegen. Er hätte "gerade den Schwulen getroffen, dieser hätte ihn angetatscht." Ich war entsetzt, da ich dachte, ich hätte mich getäuscht.
Es stellte sich heraus, dass Du einfach nur Kontakt suchtest und!!!!???!!! Du ein Zugezogener warst, der eben offener mit Menschen umging wie die Hiesigen. Zum Abschied gab's eben ne Berührung auf den Oberarm (so kenne ich das auch noch, hier wird es als Übergriff bewertet). Das Schlimmste, was ich über Dich hörte, war, dass man bei Dir aufpassen muß, dass Du einem nicht in den Schritt fasst.

Ich hatte noch zweimal kurz geschäftlich Kontakt mit Dir.

Eines Tages sah ich Dich... Ich sehe noch Deinen Pullover den Du an hattest... Und ich sah einen geknickten Mann, der zu dem Zeitpunkt mit ziemlicher Sicherheit schon gebrochen war. Ich grüßte Dich wie immer, sah Dich "prüfend" an, Du warst so "klein".
Soll ich Dich ansprechen? Soll ich, soll ich nicht? Ich kannte Dich doch kaum... Und in der Hoffnung, dass Du jemanden besser kennst, dem Du Dich anvertrauen kannst, hab ich's gelassen Das war das letzte Mal, dass ich Dich sah.

Du wohntes ein paar Häuser weiter... Fast täglich gehe ich an diesem Haus vorbei, das nach ca. 2 Tagen unserer letzten Begegnung ständig gelüftet wurde.
Von einem flüchtigen Bekannten erfuhr ich dann, was passiert war ... Er hatte in dieser Nacht Bereitschaft.

Ruhe in Frieden, Du lieber sympathischer Mensch.
Ich bin so froh, dass man Deinen Körper überführt hat und Du so dem Schicksal des anderen J. nicht ausgesetzt bist, dem sie hier im Tode noch nicht mal Ruhe gönnen.

Ich werde Dich nicht vergessen.