Alles auf Anfang
Ich fand mich, der Vernunft folgend, am Tag meiner Abreise in die Schweiz im roten VW-Golf, der als resolut bekannten Olga Swoboda, wieder. Sie war nicht allein. Neben ihr saß eine junge Frau, die mir lächelnd die Hand reichte und sagte: „Ich bin Sophie Klingspiegl, Olgas Nachfolgerin im Sozialmedizinischen Dienst. Sie geht ja demnächst in Pension, wie sie sicher wissen.“
Nein, wusste ich nicht.
Olga klärte mich auf, erzählte in kurzen Sätzen, dass sie meiner „Überführung in die Schweiz” auch deshalb zugestimmt hatte, weil sie das Nützliche mit dem Praktischen verbinden konnte. Auf diese Weise konnten die beiden Damen die Reise in den Effingerhort für Gespräche mit dem Salzburger Patienten-Kontingent in diesem Schweizer Haus nutzen. Der Effingerhort war keine Klinik, sondern ein großer Gutshof mit vielen Feldern und Waldbestand. Laut Prospekt versucht man autark zu sein – Selbstversorgung ist eines der Ziele. Das Konzept klingt plausibel und wird durch Patienten mittels Arbeitstherapie ermöglicht. Träger der 70 Jahre alten Institution ist die Julia-von-Effinger-Stiftung.
Das gefiel mir. Sich über seiner Hände Arbeit zu definieren, schien ein gangbarer Weg aus der Sucht zu sein. Ein ganzes Jahr hatte ich Zeit dazu. Dreihundertfünfundsechzig Tage.

Noch bevor wir den geplanten Aufenthalt zum Mittagessen in Landeck erreichten, setzte Regen ein. Frau Olga fluchte, weil die Innenscheiben anliefen und sie das Antibeschlagtuch nicht fand. Die Luft im Auto war feucht und dunstig geworden. Selten zuvor hatte ich mich so nach einer Zigarettenpause gesehnt wie in diesem Moment. Kaum war der Golf am Parkplatz einer Raststätte zum Stehen gekommen, sprang ich aus dem Auto und hielt den Damen die Tür auf. Während sie umständlich ihre Regenschirme aufspannten und wie verschreckte Hühner zum Eingang des Restaurants hüpften, zündete ich mir genüsslich eine Zigarette an.
„So kommen Sie doch, Herr Ferdinand“, riefen sie mir zu, „sie werden sich noch den Tod holen bei dem Sauwetter!”
„Gehen Sie nur voraus, ich komme gleich nach“, sagte ich.
Frau Olga fühlte sich verantwortlich. Sie wollte mich nicht allein lassen und gesellte sich zu mir, während ich rauchte. Ich war sauer und sagte: „Schade, ich dachte, Sie vertrauen mir.“
„Ich kenne meine Pappenheimer“, sagte sie.
„Wollen Sie, dass ich mich als Delinquent fühle?“
Sie habe schon ganz andere Dinge mit Alkoholikern erlebt, meinte sie. Erst als ich ihr versicherte, dass ich nicht irgendein Alkoholiker sei, sondern der Ferdinand, der als freier Mann diese Reise angetreten hat, bemerkte ich ein leichtes Zucken um ihre Mundwinkel. War das ein Lächeln? Wenn ja, dann war es nur der Mund, der lächelte, die Augen blieben kalt. Ein Berufslächeln.
Auf einmal waren mir die beiden Frauen egal. Meine innere Stimme meldete sich: „Es geht um dich. Du bist dir selbst am nächsten, du bist seit sechs Wochen trocken, so lange wie nie zuvor in deiner Trinkerkarriere. Das ist doch was, oder?”
Am liebsten hätte ich laut „Ja” gesagt, aber ich blieb still. Innerlich zog ich Bilanz. Zwanzig Jahre! So lange brauchte es, bis ich ein Verhältnis zu mir selbst bekam. Die letzten Monate des Suffs hatten mir schwer zugesetzt. Dass es wirklich die berühmten fünf Minuten vor zwölf waren, konnte man an meinen Blutwerten ablesen. Auch die Not, die mit der Diagnose: Lungen-Tuberkulose fast unüberbrückbar schien, war zumindest bis zur nächsten Kontrolluntersuchung gelöst.
Beim Mittagessen hatte ich aus alter Gewohnheit ein Gulasch bestellt – natürlich ohne Bier. Plötzlich kam mir die ganze Tragweite meiner Situation in den Kopf. Nicht nur heute – für immer – Gulasch ohne Bier. Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Nach dem Essen räusperte sich Sophie Klingspiegl: „Sie sehen betrübt aus, Herr Ferdinand.”
„Schon okay“, sagte ich. Das Gefühl, mit den Damen vom Amt nicht klarzukommen, nicht richtig ernst genommen zu werden, nur ein labiler Alkoholiker zu sein, drückte auf mein Gemüt. Ich wiegelte ab: „Es ist nichts. Kein Problem.“
Ich wollte nicht über meine Gemütslage sprechen. Wie hätte die wilden Fantasien erklären können, die mich umtrieben. Dieses Ungewisse führte zu Gedankenspielen, die ich unmöglich preisgeben konnte. Wenn die Frauen geahnt hätten, dass ich von einem Unfall träumte, … vielleicht ein Blechschaden, ein gebrochenes Bein. Etwas in der Art, gerade so viel, dass wir umkehren müssten …
Über den Blödsinn in meinem Kopf musste ich lachen. Die Damen warfen mir einen skeptischen Blick zu, sie wurden nicht schlau aus meinem Verhalten. Ich hatte mich gerade dabei ertappt, wieder einmal vor einem Problem davonlaufen zu wollen. Und das – wie ich aus alter Erfahrung wusste – in einem Besäufnis enden würde.
An der Schweizer Grenze wurden wir freundlich durchgewinkt. Wir legten hinter dem Zollgebäude einen Zwischenstopp ein. Die Damen verschwanden in den Toiletten. Ich vertrat mir die Füße bei einem kleinen Rundgang. Hinter mir flutete der noch nicht zum Strom gewordene Rhein dem Bodensee zu. Vor mir lagen sattgrüne Matten, die schon die Appenzeller Alpen ankündeten. Am Schaufenster eines Supermarktes stand geschrieben: „Frische Güggeli!” Das war mein erstes Schweizer Wort, das ich lernte. Meine geliebten steirischen Hendl wurden zu: Schwyzer Güggeli.
Dann kam Zürich, die einzige wirkliche Schweizer Großstadt. Die Stadt der Millionäre, sagt man. Ich wusste nur, dass Udo Jürgens da wohnt. Nicht mehr weit von Zürich liegt Wildegg mit dem Schloss der Julia von Effinger, der Stiftungsgeberin und Namenspatron vom Effingerhort, seit über 70 Jahren Heilstätte für alkoholkranke Männer. Das Anwesen liegt auf dem Kernenberg (Chärneberg) in der Gemeinde Holderbank.
Eine schmale, steile Asphaltstraße führte zum Effingerhort hinauf. Wir parkten unter einem Kastanienbaum vor dem Haupthaus, dessen grüne Fensterläden etwas Heimeliges ausstrahlten. Unser Ziel war erreicht.

Wir wurden von einem sonderbaren Pärchen erwartet. Da standen zwei Menschen unter der Eingangstür, wie sie gegensätzlicher nicht sein konnten. Sie in Gestalt einer zarten Frau, deren blonde Locken in der Sonne leuchteten – er ein fünfzigjähriger Riese mit stattlichem Bauchansatz. Der Mann zog freundlich lachend seinen Filzhut zur Begrüßung und zeigte seine spiegelnde Glatze, die ein silbergrauer Haarkranz säumte. Ich hätte in ihm eher einen Dorfwirt gesehen als das, was er war.
„Willkommen am Chärneberg“, sagte er freundlich. „Ich darf Ihnen meine Frau Ursula vorstellen. Ich bin Guido Toggenburg, ich leite dieses Haus.”
Die Formalitäten der Anmeldung erledigte Olga Swoboda und Sophie Klingspiegl für mich. Die Mappe mit den ärztlichen Befunden und dem Bescheid des Kostenträgers lag auf dem Schreibtisch im zentralen Büro. Das obligate Erstgespräch mit dem Betreuer-Team soll morgen stattfinden.
Wie aus dem Nichts kommend, stand ein junger, asiatisch aussehender Wuschelkopf neben mir, legte eine Hand auf meine Schulter und sagte: „Kommen Sie, Herr Ferdinand, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.”
Ich wich einen Schritt zur Seite und sah ihm in die Augen - und beruhigte mich sogleich. Ich weiß nicht mehr was es war, dass mir diesen Menschen sofort sympathisch machte.
„Ich bin Hanspeter, dein persönlicher Betreuer. Ich bin zwar der Jüngere, aber wenn du magst, biete ich dir das DU an. Es macht vieles einfacher.” „Klingt gut, Hanspeter, natürlich mag ich. Was ist dein Job hier?”
„Ich bin Ergotherapeut. Und du? Was machst du, wenn du nicht gerade im Effingerhort eine Auszeit nimmst?“
„Gelernt habe ich Hafner und Fliesenleger. Mein Traum war einmal die Selbstständigkeit als Meister. Leider ist alles gescheitert. Tja, und jetzt bin ich hier. Vom Alkohol entgiftet, die Leberwerte sinken, die Tbc zumindest momentan im Griff. Ich fühle mich körperlich gut wie lange nicht mehr.”
„Das ist ein Superstart, Ferdinand! Ich und das ganze Team vom Effingerhort stellen dir das Rüstzeug zur Verfügung. Quasi die Startbahn ins neue Leben – fliegen musst du selber. Ich bin gerne dein Co-Pilot. Uf goht’s – Take off!“
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