Bruder Kunibert
Mein erster Arbeitstag begann in der Malerwerkstatt. Poldi Zoglmair, mein Kollege, war gelernter Maler- und Anstreicher und noch bis Ende des Monats verantwortlich für die Werkstatt. Danach sollte ich diese Arbeiten übernehmen. Unser erster gemeinsamer Einsatz galt der alten Bäckerei im Keller des Haupthauses. Die Backstube war seit Jahren außer Betrieb und zur Abstellkammer verkommen. Guido Toggenburg, unser Chef, hatte eine Idee. Ihm schwebte vor, die rustikale Stube zu neuem Leben zu erwecken.

Nach langem Suchen hatte er einen Bäcker gefunden – Kunibert. Er hatte sein Leben lang die Pfisterei eines Klosters geleitet und war nach dessen Schließung pensioniert worden. Bruder Kunibert erklärte sich freudig bereit, einmal wöchentlich den alten Ofen im Kellergewölbe anzuheizen und für Personal und Patienten köstliches Holzofenbrot zu backen. Einzige Bedingung: Bruder Kunibert brauchte einen Helfer, der ihm zur Hand ging. Dieser Handlanger sollte ich werden, weil ich Kenntnisse im Ofenbau hatte. In Zukunft würde ich also dafür sorgen, dass im Ofenloch das Feuer knistert und Bruder Kunibert für uns alle köstliches Krustenbrot backen kann.
Aber noch war es nicht so weit. Zunächst mussten Poldi Zoglmair und ich die Backstube ausräumen. Auf den Querstangen zwischen den Gewölbebögen lagen bündelweise Brotläden, Ofenschieber zum Einschießen und massenweise Brotkörbchen verschiedener Größen und Formen.
„Jedenfalls brauchen wir besseres Licht”, sagte er und deutete auf das seltsam ockerfarbene Licht, das aus einer windschiefen Lampe fiel. Die Fenster staubig, die Wände vergilbt und rauchig, in den Ecken dunkelbraun. Auf dem in Jahrzehnten abgetretenen Klinkerboden klackten lose Platten, als wollten sie Geschichten von früher erzählen. Alles, wirklich alles hier wirkte alt und schäbig, selbst Poldis schwarzer Vollbart war plötzlich grau.
Wir kamen gut voran. Ich war froh, endlich etwas leisten zu dürfen. Doch Poldi stoppte mich. „Mach nicht so schnell, wir haben hier keinen Leistungsdruck”, sagte er. „Gott sei Dank.” Poldi lachte. Ich muss wohl ziemlich dumm geschaut haben. „Mach mal eine Pause, Ferdinand. Ich muss in die Werkstatt, um Farbe anzurichten.”
„Okay sagte ich und begann mich weiter hinten im Keller umzusehen. Die Gänge waren weit verzweigt. Überall gab es Nischen und geheimnisvolle Türen. Der Hauptgang mündete in ein rundgemauertes Gewölbe. Eine halbkugelförmige Lampe hing lose von der Kellerdecke. Ihr spärliches Licht bildete eine kreisrunde Fläche auf den Pflastersteinen. Daneben fristete ein feuerfester Blechschrank, wie man ihn für Akten verwendet, sein Dasein. Die Schranktür hatte zwar ein Sicherheitsschloss, war aber nicht versperrt. Ein angerosteter Schlüssel steckte im Schloss.
Es roch muffig. Die Luft schmeckte abgestanden und verbraucht. Der Staub der Jahre lag überall und wurde jetzt von mir aufgewirbelt. In meinem Mund hatte sich der pelzige Geschmack festgesetzt. Ich hatte den Eindruck, in einer schlafenden Welt zu stehen, die jederzeit erwachen konnte. Eine gewisse Spannung begleitete mich auf Schritt und Tritt. Nicht nur Staub sah ich auf den Gegenständen, es hingen auch Spinnweben so weit nach unten, dass sie mein Gesicht streiften. Das war eine regelrechte Filmkulisse ohne Menschen.
Hinter dem gelben Licht lag der Rest des Kellers im Halbdunkel. Schemenhaft erkannte ich eine hölzerne Truhe, die quer über dem Gang stand. Ein altbekannter, kindlicher Schatzsucherreflex ließ mich vorsichtig den Deckel heben und sogleich wieder zuklappen. Weiße Dellen im braunen Blechgeschirr starrten mich wie tote Augen an. Mein Interesse am alten Plunder schwand, obwohl es da viel zu erkunden gab. Mein Augenmerk galt nur noch dem Aktenschrank.
Schritt für Schritt tastete ich mich zurück zum Ausgangspunkt meines Interesses. Nachdem ich die klemmende Schranktür mit einem Ruck geöffnet hatte, fielen mir sogleich zwei, drei Kartons, gefüllt mit Ordnern, Mappen und Schnellheftern vor die Füße. Ein Blick auf die Umschläge sagte mir, es sind Dossiers über Patienten vergangener Jahre. Hinter jedem Aktendeckel stand eine Personalie. Jeder Satz beschrieb ein Individuum, das irgendwann am Alkohol gescheitert war, so wie ich. Jedes Zeichen, jede Ziffer wurde ein Abbild meines eigenen Selbst. Während ich in den Dossiers von wildfremden Menschen blätterte, überkam mich Scham. Es fühlte sich nicht richtig an, auch wenn die Akten bis zu vierzig Jahre alt waren. Ich wusste nicht, ob diese Männer, deren Daten und Krankengeschichten absolut vertraulich waren, überhaupt noch am Leben waren.
'Enterisch', sagte man früher, wenn etwas unheimlich war. Jetzt war es wieder so. Die alten Akten-Alkis flüsterten mir etwas zu. Es schien, als wollten sie aus dem Schrank kriechen und mir ihre Geschichte erzählen, die tief begraben in den Ordnern lag. Ich verfiel in eine stille Konzentration, wo Objekt und Subjekt verschmolzen.
Dann plötzlich dumpfer Lärm. Jemand stieg die Treppe herunter, kam unaufhörlich näher und fiel laut fluchend über unser Baustellenkabel vor der Backstube. Zweimaliges Klicken eines Feuerzeugs – dann ein flackernder Schein in ein bärtiges Gesicht. Poldi Zoglmair, mein Kollege war zurückgekommen. Und ein unbekannter Mann. Ich schloss die Schranktür mit dem Entschluss, diese bald wieder zu öffnen.
„Ferdinand“, rief Poldi ungeduldig, „Bruder Kunibert will mit dir den Backofen besichtigen!“
Die Welt war ein paar Momente still gestanden. Das unsanft unterbrochene Aktenstudium über Alkoholiker früherer Zeiten ließ mich innerlich zerrissen zurück. Dennoch nahm ich mir vor, später zum Aktenschrank zurückzugehen um die eine oder andere Akte in mein Zimmer zum ungestörten Studium mitzunehmen.
Äußerlich war mir nichts anzumerken, als ich die Backstube betrat. Poldi war gerade dabei, einem untersetzten älteren Mann den Holzbackofen zu zeigen. Ich war vom Aussehen dieses Mannes enttäuscht – hatte ich doch einen Klosterbruder erwartet. Das soll Bruder Kunibert sein? Vor mir stand ein Mann in kurzer Hose und kurzärmeligen kariertem Hemd. Das soll ein Klosterbruder sein? Wo ist die Kutte? Irgendwie enttäuscht, stellte ich mich vor: „Ich bin der Ferdinand und soll beim Backen und Aufheizen des Ofens helfen”, sagte ich. Und im Nachgang etwas zögerlich: „Bruder Kunibert.”
Ich erinnerte mich an meine Obdachlosenzeit, als ich, wenn die Not am größten war, an der Pforte des Klosters St. Peter in Salzburg vorsprach und um eine milde Gabe bat. Pater Andreas schickte mich damals oft hinüber in die Stiftsbäckerei. Vor der Backstube drehte sich ein Mühlrad, das eine ratternde Mühle antrieb, die das Korn mahlte. Wie im Märchen. Dort buk Bruder Oswald seit vielen Jahren köstliches Brot. Jeden Tag hat er mit einem Gehilfen das immer gleiche Brot aus Sauerteig gebacken. Das allseits geschätzte St. Peter Roggenbrot mit der dunklen, rissigen Rinde wurde in einem historischen, holzbefeuerten Ofen produziert. Manchmal bekam ich einen ganzen Laib geschenkt, der mir dann einige Tage das Leben erleichterte.
Bruder Kunibert streckte mir die Hand entgegen und lachte: „Kansch Kuni zu mir sagen, der ‘Bruder‘ ist geschenkt. Im Kloster war ich zwar, aber ohne die Profess abzulegen. Ich war als Bäcker angestellt. Weil im Kloster alle Brüder sind, war ich eben auch einer. Ich wohne ganz weltlich unten im Dorf.”
Über dem Feuerraum des alten Brotbackofens stand, aufgeteilt auf drei Reliefkacheln, die Inschrift: „Brod bricht Noth“. Das gefiel meinem Meister Kuni. Inzwischen war unser Chef dazugekommen und begrüßte seinen alten Freund Kunibert herzlich. Die Backstube war nicht am letzten Stand der Technik, aber das störte Kuni nicht.
Bei uns drehte sich zwar kein Mühlrad, aber Kuni, so dachte ich, hat die Autorität des Bäckers, der durch sein Wissen und seinen geschickten Händen ein ebenso gutes Brot wie damals Bruder Oswald in Salzburg. Ich werde ihn so gut ich kann unterstützen. Und auch der einzigartige Duft einer Bäckerei wird sich einstellen.
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