Die Rückkehr der Lebensgeister
Samstag, 15. Mai 1982.
Ich wählte den Nachtzug zur Rückkehr nach Salzburg weil ich den Kopf freibekommen wollte. In der Nacht werden die Gefühle klarer, die Gedanken lauter und die Musik wird schöner. Nachts merke ich, was Fassade ist und was nicht. Nächte sind ehrlich. Ich dachte nach, führte einen stillen Dialog mit mir selbst. Und schrieb meine Gedanken in mein Notizbuch:

Ich bin geformt von meiner eigenen Biografie. Alles was ich heute denke und fühle, ist gewachsen aus den unzähligen Ereignissen meines Lebens und den daraus resultierenden Erfahrungen. Jeder Fehler hat seine Vorgeschichte und entsteht aus der Situation heraus. Genau diese Situation lässt sich nicht wiederholen und daher auch nicht ungeschehen machen. Irgendwann habe ich beschlossen, die Zeit einfach so zu nehmen, wie sie ist und mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Alles was heute passiert, ist ein Geschenk des Lebens. Alles was morgen passieren könnte, liegt nicht in meiner Hand. Alles was in der Vergangenheit passiert ist, macht mich weiser.
Ich hatte gerade mein Gepäck in der Aufbewahrung im Hauptbahnhof deponiert, als knapp vor sechs Uhr über dem Gaisberg die Sonne aufging. Das war es, was ich sehen wollte. Zufrieden schlenderte ich durch das Bahnhofsgelände, das in obdachlosen Zeiten manchmal mein Zuhause war. Zielbewusst steuerte ich den Marmorsaal im Bahnhofsrestaurant an. Es war noch Zeit bis zu meinem ersten Treffen an diesem Tag. Bruno, mein Freund, wollte um 9:00 Uhr im Café Tomaselli in der Altstadt sein. Bruno ist ein besonderer Mann. Er hatte die chaotischsten Zeiten mit mir geteilt, trank so manche Flasche leer, ohne jemals abhängig zu werden – außer von seiner wohlhabenden Lebensgefährtin – aber diesen Umstand genoss er. Elfriede hielt ihm den Rücken frei. Bruno war ein gebildeter Freigeist, machte brotlose Erfindungen und war ein Lebenskünstler, Philosoph und Menschenfreund. Nach seiner Lehre als Hotelfachmann heuerte er beim Bundesheer an und wäre fast Hubschrauberpilot geworden, hätten sie ihn nicht als ‚unehrenhaft’ entlassen. Den genauen Grund verriet er mir nie, aber ich ahnte es – Frauengeschichten, seine große Schwäche, wie er selbst zugab. Unsere Freundschaft fußte auf Gegenseitigkeit und Respekt. Bruno war Denker – ich Handwerker, das ergänzte sich famos.
Ich genieße die Ruhe, die der Sonntagmorgen in einer Touristenstadt wie Salzburg zu bieten hat. Am Alten Markt angekommen, staunte ich nicht schlecht. Bruno stand etwas erhöht auf den Stufen des Florianibrunnens vor dem ‚Tomaselli’ und versuchte in radebrechendem Englisch einer Schar blondierter Amerikanerinnen zu erklären, dass er leider kein Englisch spreche. Als ich grinsend auf ihn zukam, erkannte mich Bruno. Ich fragte: „Was ist los mit dir, bist du jetzt Fremdenführer geworden?”
„Mensch Ferdinand, dich schickt der Himmel, sag den Mädels, dass ich genau das nicht bin.”
Jetzt hatten mich die Ladys bemerkt. Ich hob die Hände und rief ihnen in ebenso holprigen Schulenglisch zu: „This man is not a tour guide.” Daraufhin zogen sie ab.
„Wie das?”, fragte ich kopfsc^yhüttelnd Bruno.
„Keine Ahnung. Ich habe mich auf den Brunnen gestellt um dich besser zu sehen, wenn du kommst.”
„Alles klar, komm runter. Dein Empfang ist ja fast gelungen, mit Ami-Mädels hatte ich allerdings nicht gerechnet.“
„Jaja, red du nur … Komm, wir gehen auf einen Willkommenstrunk.”
Wir setzten uns an einen Tisch mit Fensterblick auf den Toskanatrakt der alten Residenz in der Churfürststraße. In diesem Gebäude war auch die Polizeidirektion untergebracht.
„Da muss ich demnächst hin”, sagte ich zu Bruno.
„Hast was ausg’fressen?”
„Nein, es geht um meinen Führerschein, den ich ja nicht mehr zurückbekommen habe. Du weißt schon wegen dem ‚Schwarzfahren’”
„Und? Bekommst du ihn?”
„Nein, leider nicht. Aber ich habe einen Antrag gestellt, dass ich nach gewissen Pflicht-Fahrstunden in einer offiziellen Fahrschule zur neuerlichen Prüfung durch die Behörde antreten darf.”
„Wahnsinn! Das komplette Programm?”
„Das komplette Programm, ja. Und zusätzlich ein ärztliches Gutachten. Du verstehst?”
„Wegen Alkohol?”
„Ja, genau. Besonders auf die Leberwerte sind sie scharf.”

Bruno wollte helfen, wusste aber nicht wie. Ich fragte ihn, ob er seinen alten VW-Käfer noch hat.
„Ja, natürlich”, sagte er, „willst ihn mir abkaufen?”
„Nein, nicht abkaufen. Ich bräuchte nur ein paar Trainingsstunden wegen der Sicherheit. Ich bin jahrelang nicht gefahren. Ich dachte an ein paar Runden am Sonntag auf einem Supermarkt-Parkplatz. Unter deiner Patronanz versteht sich.”
„Super, das machen wir. Du spendierst einen Tank voll Sprit, und wir brettern durch die Gegend, bis die Kiste auseinanderfällt!”
„Danke!”
Und wie gehts weiter? Was hast sonst noch alles vor du alter Haudegen?”
Wir saßen den ganzen Vormittag im Tomaselli. Ich erzählte von meinen Plänen. Dabei war ich selbst überrascht, welche Power in mir steckte.
Bruno war jedenfalls beeindruckt von meinen Wünschen, Plänen und Visionen. Er setzte sich gerade, stützte seine Ellenbogen am Tisch ab und begann mit den Fingern aufzuzählen. Also, wenn ich das richtig verstanden habe, dann willst du:
1) den Führerschein machen,
2) einen Job suchen,
3) die Facharbeiterprüfung nachholen,
4) dich zur Meisterprüfung anmelden
5) eine Firma gründen – richtig?
Richtig!
„Und was ist mit Frauen, Ferdinand? Unter uns gesagt: Ich kann dich mir ohne Frau nicht vorstellen. Und noch was Wichtiges: Du brauchst eine Wohnung. Natürlich kannst du bei mir auf der Couch schlafen, aber auf die Dauer brauchst du was Vernünftiges.”
Ich musste lachen. So wie er sich für mich engagierte, war er köstlich anzusehen in seinem Eifer.
„Bist ein wahrer Freund, Bruno, vielen Dank! Deine Aufzählung hat schon seine Richtigkeit. Wenn nichts Gröberes dazwischen kommt, dann mache ich das genau so. Und jetzt zu den Frauengeschichten und der Wohnungsfrage. Hör’ gut zu.“
„Bin ganz Ohr!”
„Heute Nachmittag bin ich bei meinen Schutzengeln von der Telefonseelsorge zu einem Kaffeeplausch im Haus des Domorganisten und seiner Frau Erni in Großgmain eingeladen. Beide sind sozial sehr engagiert und haben im Vorfeld meiner Rückreise nach Salzburg schon ihre Beziehungen spielen lassen. Sie haben mir vorab, bis ich einen vernünftigen Job habe, ein günstiges, möbliertes Zimmer organisiert.”
„Ja, alles super, Ferdinand. Aber jetzt rück schon raus damit, du hast was von Frauen angedeutet!”
„Neugiersnase! Also gut, es gibt da eine Frau, mit der ich mich bis jetzt nur brieflich unterhalten habe. Sie heißt Anna und ist wie ich, trockene Alkoholikerin. Anna ist wie ich, ein ‚Klient’ der Telefonseelsorge. Ilse, meine Lebensretterin, war der Meinung, dass wir zwei viel gemeinsam hätten. Unabhängig voneinander hatte sie Anni und mich befragt, ob wir an einem Austausch unter Leidensgenossen interessiert wären. Lange Rede – kurzer Sinn: Wir haben uns seit einiger Zeit Briefe geschrieben.”
„Ja und? Wie gehts weiter?”
„Na ja, wie soll ich sagen? Ich bin ziemlich aufgeregt. Anni wird heute bei diesem ‚Kaffeekränzchen’ in Großgmain auch dabei sein.”
„Wahnsinn! Du bist ja ein richtiger Glückspilz.”
„Ich weiß nicht … ein bisschen nach Kuppelei riecht es schon.”
„Ach was, Ferdinand sei nicht so negativ. Die meinen es nur gut mit dir. Vielleicht beschnupperst du erst mal deine Anni, dann werden sich die Dinge von selbst ergeben.”
„Hoffentlich hast du recht, Bruno. Ich mach’ mich jetzt mal auf die Socken. Ich ruf dich am Abend an, okay?”
„Alles klar, mach’s gut!“
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